Hartz IV oder die deutsche Unterschicht
Ein Bericht über Aspekte des Hartz IV-Systems in Deutschland und ein Inter view mit dem Vorsitzenden der Widerstandsorganisation "Hartz-4-Betroffene e.V."
Im Spätsommer 2011 und rechtzeitig vor den Nationalratswahlen malte einer der SVP-Senkrechtstarter den Teufel an die Wand: "Bald kommen die Hartz IV-Empfänger in die Schweiz". Dem "Blick" verriet Heinz Brand: "Das Schweizer Sozialsystem ist immer noch erheblich attraktiver als die deutsche Sozialhilfe." Deshalb stehe die massenhafte Einwanderung "deutscher Unterschichten" kurz bevor. Was Hartz IV eigentlich ist, weiss bei uns ohnehin niemand. Wenn Brand es mit deutscher Unter- schicht-Fürsorge konnotiert, kann man wenigstens im sozialpolitischen Smalltalk wieder etwas mitreden.
Letztes Jahr, beim Unterschriften sammeln für die Grundeinkommensinitiative, sagte mir ein interessierter Bürger: "Grundeinkommen - dann haben wir Hartz IV auch in der Schweiz." Und nährte damit meine Zweifel an der Brand`schen Definition. Anfangs dieses Jahr war ich in Berlin und nützte die Gelegenheit, um mich im nahen Potsdam bei Jürgen Weber über Hartz IV zu erkundigen. Er ist Gründer und Vorsitzender des Vereins Hartz-IV-Betroffene e.V. und wohnt und arbeitet ganz in der Nähe des Bahnhofs der südwestlich von Berlin gelegenen Hauptstadt des Landes Brandenburg.
Ein ungehorsamer Langzeitarbeitsloser
Offiziell ist Weber ein Langzeitarbeitsloser. Er findet allerdings, er sei ein Arbeit-Su- chender und seine Aufklärungsarbeit, die er tagtäglich seit bald zehn Jahren macht, müsste eigentlich bezahlt werden. Weil aber diese Arbeit ihn aus der "Hilfebedürf- tigkeit" nicht befreit, gilt sie nicht als Arbeit, eine von Dutzenden ideologisch gefärbter Grundregeln des Hartz IV-Systems. Weber ist ein militanter Hartz IV-Empfänger. Er engagiert sich auch noch im Armutsnetzwerk e.V., wo er besonders rechtliche Fragen betreut, sowie im kommunalpolitischen Forum des Landes Brandenburg und in der Landesarmutskonferenz Brandenburg. Für ihn selbst am wertvollsten in all diesen Tätigkeiten sind die sozialen Kontakte. Denn als Hartz IV-Betroffener sei man "ganz einfach weg von allen und allem".
Nun sitzt er auf seinem "Fuffzig-Euro-Stühlchen" vor dem Computer in seiner Plattenbau-Wohnung und berät seine LeidensgenossInnen und schreibt Vorträge. Das Mass aller Hartz IV-Dinge ist der Regelsatz. Der Regelsatz ist in Geld gemessen die Summe, die ein bedürftiger Mensch aus öffentlichen Mitteln erhält, um ein men- schenwürdiges Leben führen zu können. Weber hat letzthin in einem Radiointerview ausgerechnet, was man als Hartz IV-Betroffener pro Monat so zum Leben verbrau-chen kann: 391 Euro. Allein für Nahrungsmittel zum Beispiel reicht dieser Regelsatz aus für tägliche Ausgaben fürs Essen in der Höhe von 4.63 Euro. Wenn das nicht reicht, können die Betroffenen zur Tafel gehen. Die Tafel wiederum ist eine gemeinnützige Hilfsorganisation, die jene Lebensmittel, die im Wirtschaftskreislauf nicht mehr verwendet und ansonsten vernichtet würden, an Bedürftige verteilt oder gegen einen geringen Preis abgibt. Ein Riesengeschäft für Lebensmittel- und Entsorgungs- unternehmen, sagt Weber, und macht auf die Preissteigerung im Bereich Nahrungsmittel aufmerksam, die im Regelsatz seit 2011 unberücksichtigt geblieben ist. Die Regelsätze werden gemäss den Ausgaben der untersten 15% der Lohnempfänger berechnet. Man hat also nicht den Mindestlohn von 8.50 Euro als Basis genommen, sagt Weber hiezu, weil sonst das "Lohnabstandsniveau" nicht erreicht wäre. Das "Lohnabstandsgebot" bezeichnete eine bis Ende 2010 gültige gesetzliche Regelung, wonach bei Haushaltsgemeinschaften von Ehepaaren mit drei Kindern die Regelsätze der Sozialhilfe unter den erzielten monatlichen durchschnittlichen Nettoarbeitsentgelten unterer Lohn- und Gehaltsgruppen in einer entsprechenden Haushaltsge- meinschaft mit einer alleinverdienenden vollzeitbeschäftigten Person bleiben. In der Praxis bleibt offenbar der preussisch-bürokratische Geist dieser inzwischen aufgehobenen Paragraphen erhalten. Und die Berechnung der einzelnen Regelsatzkategorien ist noch immer nicht nachvollziehbar.
Der Regelsatz ein Witz
Ohnehin wird die Berechnung der deutschen Sozialhilfe über das Konstrukt des Re- gelsatzes geradezu in fundamentaler Weise kritisiert. "Die Hartz IV-Regelsätze sind ein Witz", sagt Jürgen Weber. In den Medien wird darauf verwiesen, dass die Einkommens- und Verbraucherstichprobe ursprünglich nicht dafür konzipiert worden war, der Bestimmung von existenziellen Bedürfnissen zu Grunde gelegt zu werden. Die Anhebung der Regelsätze sei willkürlich und der vorangegangenen innenpolitischen Diskussion geschuldet gewesen: "Die Union hatte fünf, die SPD elf Euro vorgeschlagen - am Ende einigte man sich in der Mitte."Einige Beobachter vermuten, hinter der Bemessung der Leistungen seien Rechentricks angewandt worden, um die Ausgaben für soziale Zwecke nicht noch deutlicher anheben zu müssen. Auch wurde kritisiert, dass die verdeckte Armut von Personen, deren Einkommen nur unwesentlich unterhalb des Regelbedarfs liege und die deshalb darauf verzichteten, Leistungen zu beantragen, von der Statistik nicht berücksichtigt werde. Dies führe zu einer Verzerrung der Bedarfsermittlung.
Die regelmäßige Anpassung der Leistungen über einen Mischindex, der auf der Preisentwicklung und auf der Entwicklung der Nettolöhne beruht, bewirke unhaltbare Verzerrungen in den statistischen Berechnungen. Wenn die Nettolöhne stagnieren, wirke sich dies auch auf die Ausgaben und damit auf die Ergebnisse der Einkom- men- und Verbraucherstichprobe aus. Es wäre deshalb sachgerechter gewesen, die Anpassung der Leistungen ausschließlich an die Preisentwicklung zu binden. Besonders scharf wurde in der Öffentlichkeit die inkonsequente Anwendung der Statistik kritisiert. Wenn aus dem ermittelten Bedarf einfach Ausgaben für Alkohol, Tabak, Schnittblumen, Hundefutter oder für chemische Reinigung als nicht "regelbedarfsrelevant" gestrichen würden, so führe die methodische Mischung von Statistik und Warenkorb zu einem allzu niedrigen Existenzminimum. Wenn dann noch der gesetzlich erforderliche Inflationsausgleich zu spät erfolge, sei der tatsächliche Bedarf der Betroffenen in keiner Weise sichergestellt.
Hartz IV-Betroffener 391 Euro; Mitglied des Bundestags 9082 Euro
Dem fügt Jürgen Weber hinzu, dass der Hartz IV-Empfänger trotz seines faktischen Daseins am Rande oder unter dem Existenzminimum betrieben und gepfändet werden könne. Denn die 391 Euro monatlich gälten als "kulturelles" Existenzminimum. Das "reale" Existenzminimum liege hingegen bei 60% des Regelsatzes. Da sind wir dann bei realen 240 Euro monatlich. Weber weist darauf hin, dass sich die Abgeordneten des Deutschen Bundestags eben eine Gehaltserhöhung von monatlich 830 Euro auf 9082 Euro bewilligt haben. Im Interview mit dem Moderator der Radiosendung "Der Wendeberater" erklärt darauf der Moderator, es sei doch erstaunlich in welch kurzer Zeit ein solcher Beschluss im Parlament gefasst werde, während allzu viele Menschen in Deutschland auf die Voraussetzungen eines Lebens in Würde warten und warten müssen. Ja, aber was soll denn dieser Vergleich? Auf den Bundestag ist Weber gar nicht gut zu sprechen. Für ihn sitzen dort die System-Verantwortlichen, die dieselbe Staatskasse zu ihren Gunsten plündern, aus der sie die Hartz IV-Betroffenen mit einem mickrigen Trinkgeld abspeisen. Erst durch Recherchen im Internet ist mir aufgefallen, dass es neben den Bezügern und den Betroffe-nen noch eine dritte Hartz IV-Kategorie gibt, die mir gegenüber Jürgen Weber mit keinem Wort erwähnt hat: das sind die Opfer.
Mehr darüber unter http://dieopferderagenda2010.wordpress.com/ und http://schindersliste.wordpress.com/.
(Quellen: Wikipedia, rtl.de, ntv.de, http://www.der-wendeberater.de/, hartz-4-be- troffene.de)
4,5 Millionen Hartz IV-EmpfängerInnen
In Deutschland gibt es 4.402.718 Hartz IV - EmpfängerInnen oder je nach Betrachtungsweise Hartz IV-Betroffene. Sie erhalten das Arbeitslosengeld II (ALG II) weil sie ein geringes oder gar kein Einkommen haben. Die Höhe des ALG II orientiert sich nicht am früheren Erwerbseinkommen einer Person. Sie ist eine steuerfinanzierte Leistung, die das Existenzminimum sicherstellt. Das ALG II umfasst den Regelbedarf und den Bedarf an Unterkunft und Heizung. Auch die Krankenversicherungsbeiträge werden übernommen. Die Höhe des Regelbedarfs richtet sich danach, ob man alleine, mit einem (Ehe-)Partner oder als Erwachsener im Haushalt eines anderen lebt. Bei Kindern ist das Alter maßgeblich. Die Regelbedarfe betragen zwischen 229 und 391 Euro (Stand Januar 2014).
Darüber hinaus werden die Kosten für Unterkunft und Heizung übernommen, soweit sie angemessen sind. Arbeitslosengeld II wird nur auf Antrag gewährt. Einen Antrag kann jeder hilfebedürftige Erwerbsfähige im Alter von 15 bis 65 bzw. 67 Jahren beim zuständigen Jobcenter stellen. Eigenes Vermögen muss bis zu einer Schongrenze vorher aufgebraucht werden. Umgangssprachlich wird das Arbeitslosengeld II häufig als Hartz IV bezeichnet, weil es sich dabei um die vierte Stufe im sogenannten "Hartz-Konzept" der Agenda 2010 handelt.
(Red. So beschreibt das Hilfswerk Caritas www.caritas.de das hochkomplexe Hartz IV-System.)