Problem Neoliberalismus

Geschrieben von Mediendienst Hälfte . Veröffentlicht in andere Länder

(ver.di) Der französische Präsident Hollande steht unter Druck. Bundeskanzle­rin Merkel, die EU-Kom­mission und Unternehmerverbände fordern, dass er auf ihren neoliberalen Kurs einschwenkt: Kürzung öffentlicher Ausgaben und Steuer- und Lohnkos­tensenkungen für Industrie.

Das soll Frankreichs Wirtschaft auf Trab bringen. Dabei folgte die französi­sche Loh­nentwicklung fast perfekt dem verteilungsneutralen Spielraum: Steigen die Löhne im Gleichschritt mit Produktivität und Inflation, verteilt sich der wirtschaftliche Zuwachs gleichmäßig auf Beschäftigte und Unternehmen. Das hat – anders als in Deutschland – die Nachfrage gestärkt und mehr Wachstum und Jobs gebracht.

Das wahre Problem Europas ist die schlechte Lohnentwicklung in Deutschland. Sie trieb die Exporte, aber schwächte gleichzeitig die Nachfrage – auch nach Gütern aus anderen Ländern. Damit hat die größte Wirtschaftsmacht der EU andere Euroländer in steigende Handelsdefizite und Verschuldung getrieben.

Jetzt zwingt Merkel ganz Europa eine brutale Kürzungspolitik auf. Diese ist unsozial und ungerecht und verschärft auch noch die wirtschaftliche Krise in immer mehr EU-Ländern. Ein Kurswechsel ist nicht in Frankreich, sondern in Deutschland nötig: kräftig steigende Löhne, mehr Sozialstaat, gerechte Politik. Geld ist genug da – es haben nur die Falschen.

(Wirtschaftspolitik, 19. November 2012)

Arbeitslosigkeit in Europa auf Rekordhoch

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(Swissinfo 30.11.2012). Die Schuldenkrise hat die Zahl der Arbeitslosen in der Eurozone er­neut auf einen Rekordwert getrieben. Im Oktober waren in den 17 Euroländern 18,7 Mio. Menschen ohne Job - so viele wie noch nie seit Einfüh­rung des Euro. Das entsprach einer Quote von 11,7 Prozent.

Wie die europäische Statistikbehörde Eurostat in Luxemburg mitteilte, wurden im Vergleich zum Vormonat 173'000 mehr Arbeitslose gezählt. Gegenüber dem Vorjahr war es ein Anstieg von mehr als zwei Millionen.

Dramatisch sieht die Lage in den Euro-Krisenländern aus, wo Firmenpleiten und Entlassungen den Arbeitsmarkt belasten. In Spanien ist bereits mehr als jeder vierte Arbeitnehmer ohne Job, in Griechenland sind es nur knapp weniger. Im schuldenge­plagten Portugal ist jeder sechste ohne Arbeit.

Junge Leute waren besonders stark betroffen. Im Oktober waren in den Euro-Län­dern 3,6 Mio. Menschen unter 25 Jahren arbeitslos. Der Zuwachs fiel mit 350'000 doppelt so stark aus wie bei allen Arbeitnehmern insgesamt. Auch die Arbeitslosen­quote war bei jungen Leuten mit 23,9 Prozent mehr als doppelt so hoch. (sda-ats)

Familienarmut in der reichen Schweiz

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Ergänzungsleistungen für Familien sind ein wirksames Mittel gegen Familien­armut: In der Schweiz leben mindestens eine Viertelmillion Kinder in einer von Armut betroffenen Familie. Sie sind arm, weil sie zum Beispiel in einer kinderreichen Familie oder mit einem alleinerziehenden Elternteil aufwach­sen.

Hälfte / Moitié. Diese Armut hinterlässt Spuren im Lebenslauf eines Kindes. Ar­mutsbetroffene Kin­der haben öfter Probleme in der Schule, brechen häufiger eine Lehre ab und sind als Erwachsene selbst häufiger von Armut betroffen.

Die von Armut betroffenen Familienhaushalte gehören oft zu den sogenannten «Working Poor»: Sie sind arm, obwohl sie einer Arbeit nachgehen. Dabei sind be­sonders viele Working Poor im Gastge­werbe oder im Detailhandel zu finden. Aber auch ein ansehnlicher Teil der Bäuerinnen und Bauern im ländlichen Raum gehö­ren zu den Working Poor.

Zögernde Politik

Dass Kinder- und Familienarmut in der reichen Schweiz überhaupt möglich ist, ist inakzeptabel: Die Schweiz könnte es sich als Gesellschaft leisten, keine Armut zu haben. Familienarmut als Problem und Ergänzungsleistungen für Familien (FamEL) als eine mögliche Lösung stehen denn auch seit mehr als zehn Jahren auf der poli­tischen Agenda. Ergänzungsleistungen für Familien könnten dazu beitragen, die Familienarmut in der Schweiz zu lindern, analog den Ergänzungsleistungen zur AHV/IV. Familienergänzungsleistungen können aber nicht nur die Armut in den Familien verringern, sondern auch die Gemeinden bei der Sozialhilfe entlasten.

Als Pioniermodell der Ergänzungsleistungen für Familien in der Schweiz wird das Tessiner Modell betrachtet. Bereits 1997 hat der Kanton Tessin die Kinderzulagen zu einer umfassenden Bedarfs­leistung für Familien ausgebaut. Zwei Jahre später wurde ein ähnliches Projekt auf Bundesebene initiiert, welches aber bis heute nicht realisiert werden konnte, so dass in der Zwischenzeit ver­schiedene Kantone eigene Initiativen lanciert haben. Als erster Kanton nach dem Tessin hat Solo­thurn 2010 Familienergänzungsleistungen eingeführt - und der Kanton Waadt folgte 2011 nach.

Wichtiger Entscheid im Kanton Bern

Im Kanton Bern steht demnächst der Entscheid zu Familienergänzungsleistungen an. Den Anstoss dazu gab Grossrat Daniel Steiner-Brütsch (EVP, Langenthal), dessen Vorstoss «Ergänzungsleis­tungen für einkommensschwache Familien als wirksames Mittel gegen Familienarmut» bereits im Januar 2009 vom Grossen Rat mit 81 Ja-Stimmen und 58 Nein-Stimmen überwiesen wurde.

Trotz dieses klaren parlamentarischen Auftrages, die entsprechenden gesetzlichen Grundlagen für Familienergänzungsleistungen zu schaffen, weigert sich der Regie­rungsrat des Kantons Bern bis anhin, solche Grundlagen auszuarbeiten. Damit wird das Parlament, welches mehrmals den Willen bekundet hat, Ergänzungsleistungen für Familien einzuführen, nicht ernst genommen.

Infolgedessen hat EVP-Grossrat Daniel Steiner-Brütsch einen weiteren parlamenta­rischen Vorstoss in Form eines ausgearbeiteten Gesetzesvorschlages lanciert. Damit soll der Regierungsrat endlich zur Umsetzung des parlamentarischen Auftra­ges und zur Einführung von Ergänzungsleistungen für Familien bewegt werden.

In der kommenden Septembersession wird der bernische Grosse Rat über den er­wähnten, neuesten Vorstoss von EVP-Grossrat Daniel Steiner-Brütsch beraten. Es bleibt zu hoffen, dass das Parlament die Weichen richtig stellt. Denn: Was eine Familie zum Leben braucht, muss – wo nötig – mit Er­gänzungsleistungen gedeckt werden. Sie sind ein Schlüsselinstrument für die Armutsbekämpfung und können überdies als Grundrecht der von Armut betroffenen Kinder angesehen werden.

Mediendienst Hälfte
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Betriebswirtschaftlich altern und sterben

Geschrieben von Alfred Gebert . Veröffentlicht in andere Länder

Der Neoliberalismus scheint nun die letzte Stufe des menschlichen Daseins er­reicht zu haben. Alters- und Pflegeheime werden mit Kostenrahmen und nach Grundsät­zen der Rentabilität geführt. Diese ersetzt den Wert der Würde – und ökonomi­siert die Menschen noch kurz vor dem Tod.

Im Zusammenhang mit der Neuregelung der Finanzierung für die Pflege in Alters- und Pflegeheimen und durch das Organisieren der Hilfe und Pflege zu Hause über das KVG wurde ein Prozess beschleunigt, der schon vor dem Inkrafttreten der KVG-Än­derung am 1.1.2011 in einigen Kantonen begonnen hatte: Pflegeheime wurden zu­nehmend aus der Verbindung mit Gemeinden und Gemeindeverbänden herausge­löst. Das Schlagwort „Privatisierung“ zeigt auf die Statusänderungen, auch wenn damit der Tatbestand nicht präzise erfasst wird.

Die Neuregelung der Finanzierung brachte mit sich, dass die Beiträge eines Kantons und/oder seiner Gemeinden einem Automatismus unterliegen: Die Leistungen der Krankenkassen sind für jede der 12 Pflegestufen festgelegt wie auch die Höchstbei­träge der Bewohnerinnen. Kanton und/oder Gemeinden haben die restlichen Pflege­kosten (pro Pflegestufe) zu decken.

Budgetverantwortung im Vordergrund

Wie viel dabei auf eine Gemeinde entfällt, hängt weitgehend von den im betreffenden Kanton allgemein geltenden Regeln zur Aufgabenteilung zwischen Kanton und Ge­meinden ab. Aber dies ist weniger bedeutsam als der Automatismus, welcher aus dem System resultiert: Weil der Umfang der Kostenübernahme durch die Kassen fixiert ist, sind auch die Beiträge eines Kantons festgeschrieben, und was eine Ge­meinde für ihre Einwohnerinnen in Pflegeheimen zu leisten hat, ist wiederum vom betreffenden Kanton vorgegeben. Für Heimleitungen liegt also eine Art „Budgetver­antwortung“ vor, wie wir sie im Fall von Managed Care (Abstimmung vom 17. Juni 2012) kennen soll­ten.

Auf der Kostenseite hat ein weiteres Element dazu beigetragen, dass die Stimmbür­ger einer Gemeinde sich weniger mit „ihrem“ Heim zu beschäftigen haben. Seit rund zwanzig Jahren zielten die Kantone schrittweise auf Taxen, welche die sogenannten Vollkos­ten decken, d.h. die Heime hatten – in unterschiedlichem Tempo je nach Kanton – zunehmend Abschreibungen in die Taxen zu übernehmen.

Eine Gemeindeabstimmung über eine Teil- oder die Gesamtsanierung eines Heimes wird (sofern in einer Gemeinde überhaupt noch nötig) zu einem quasi symbolischen Urnengang: Der überwiegende Teil der Sanierungskosten vermag aus den Reserven des Alters- und Pflegeheimes gedeckt zu werden.

Man darf für manche Kantone behaupten, dass die in den Heimen verrechneten Kosten für Pflege und Betreuung in Alters- und Pflegeheimen bis in die Jahrtau­sendwende politisch festgelegt worden sind (so zum Beispiel im Kanton Luzern). Dass dieses „politisch festgelegt“ dabei sehr viel tiefer ging als die meisten kommu­nalen Instanzen wahrnahmen, braucht hier nicht zu interessieren.

In der jüngeren Vergangenheit wurde es für Gemeinden und Gemeindeverbände immer weniger interessant, sich um Heimpolitik zu kümmern. Die offizielle Ideologie ist es seit dem 1.1.2011 auch, dass die Entscheide über die Taxen der 12 Pflege­stufen betriebswirtschaftlich fundiert seien.

Dieses Parfum der „Betriebswirtschaft“ passt ideal in das allgemeine Gesäusel der Privatisierung. Warum sollten sich auch die (politisch ausgewählte) Heimkommission, der Gemeinderat oder gar die Gemeindeversammlung noch um ein Pflegeheim küm­mern, wenn es doch auf betriebswirtschaftlich klarer Basis (neu als Stiftung, AG des Öf­fentlichen Rechtes, usw.) geführt wird?

Kostenträchtige Menschen abwimmeln

Eine erste in Erfahrung gebrachte Konsequenz ist unerfreulich: Es gibt einige Heim­leitungen, welche versuchen „kostenträchtige“ Bewohner nicht ins Heim aufzuneh­men. Da muss diese Leitung gegenüber Interessenten (auch Sozialdiensten von Spi­tälern) behaupten, es habe keine freien Betten oder man sei aktuell – nach eini­gen Kündigungen – personell unterdotiert.

Es ist nun einmal so, dass die Einteilung in Pflegestufen einem kleineren Teil von Bewohnern nicht gerecht werden kann: verhaltensauffällige dementiell Erkrankte, manche Psychiatrieerfahrene, betagte Alkoholiker, Bewohnerin­nen mit severe de­pression, „schwierige“ Bewohner, usw. benötigen für eine kunstge­rechte und einfühl­same Betreuung in der Regel bedeutend mehr Zeit als die fast ex­klusiv auf soma­tisch Erkrankte ausgerichteten Pflegeeinstufungen (in der Deutsch­schweiz RAI und BESA) es erlauben.

Ein Mehr an Aufwand bedeutet aber weniger Einnahmen als für das „Globalbudget“ nötig wären. Da wird ökonomisch richtig gehandelt, wenn ein freies Bett nicht mit ei­nem „aufwändigen“ neuen Bewohner besetzt wird.

Dazu kommt, dass eine grössere Zahl von Heimen alles andere als komfortabel mit qualifiziertem Pflegepersonal (das gerade für solche Bewohner notwendig wäre) do­tiert ist. Dieser Tatbestand ist nicht exklusiv auf die Notwendigkeit zu kostengünstiger Leistungserbringung zurückzuführen. In einigen Regionen sind Pflegefachkräfte mit der notwendigen fachlichen und erfahrungsmässigen Basis ohnehin schwer zu rek­rutieren.

Bei den vorangehenden knappen Hinweisen zu unerfreulicher Entwicklung geht es um eine vorläufige Trendmeldung. Ob sich das Unerfreuliche weiterverbreitet, wäre nur mit grösserem Aufwand in Erfahrung zu bringen. Und daran ist ein kantonales Gesundheits- oder Sozial-Departement kaum interessiert.

Sicher ist, dass es für die Gruppe der erwähnten potentiellen Heimbewohner schwie­rig ist, Unterstützung zu finden. Auch gut ausgebaute Spitex-Dienste könnten nur selten den notwendigen Betreuungsaufwand erbringen; sozialpsychiatrische Dienste vermögen nur ausnahmsweise betreuende Aufgaben mit einiger Intensität zu garan­tieren und Psychiatrische Kliniken bauen (zu Recht) ihre gerontopsychiatrischen Langzeitabteilungen ab.

Menschlichkeit noch möglich

Ohne vergangene Zeiten irgendwie zu romantisieren, ist doch auf die Institution des Gemeindeheims zurückzukommen. Dort wurden mehr oder weniger oft Abweichun­gen vom Budget von den zuständigen Instanzen akzeptiert, weil Einwohner so z.B. vor einem Eintritt in die Psychiatrie behütet werden konnten, weil es einer betagten Ehefrau einfach nicht mehr möglich ist, ihren periodisch randalierenden Mann zu be­ruhigen oder wenn Angehörige mit der Betreuung eines schwer verhaltensgestörten dementiell Kranken überfordert sind.

Dies wird auch in Zukunft in mehreren Heimen möglich bleiben. Aber wenn dann der angetippte Trend zur konsequent betriebswirtschaftlichen Führung des Heimes sich verstärkt, werden manche darunter leiden – sicher nicht jene aus den sog. oberen sozialen Schichten.

Wir haben kürzlich mit einem Team qualitative Ausprägungen eines gemeindeeige­nen Alters- und Pflegeheimes beurteilt, in dessen fünfköpfiger Heimkommission drei der sieben Mitglieder des Gemeinderates Sitz und Stimme hatten und wo das von der Gemeinde erlassene Heimreglement festhält: „Die oberste Aufsicht obliegt dem Gemeinderat.“

So etwas widerspricht wahrscheinlich zentralen Aspekten „moderner Führung“. (Und es wäre dann noch das Tüpfchen auf dem i, dass ein Mitglied der fünfköpfigen Heim­kommission mindestens einen halben Tag pro Woche als Freiwilliger im Heim tätig ist.)

Der hier „viel zu stark“ involvierte Gemeinderat hatte über die Zeit einer ganzen Reihe von engagierten Mitarbeiterinnen in eigener Kompetenz Zulagen ausgerichtet. Und er kennt jene fünf betagten Bewohnerinnen/Bewohner, welche ihrer somati­schen und/oder psychischen Behinderungen wegen mindestens doppelt so viel Zeit für Betreuung und Zuwendung (!) benötigen, wie ihnen gemäss der Pflegeeinstufung zustehen würden.

Dieses gemeindeeigene Heim hat dann in der wissenschaftlichen Beurteilung von 29 komplexeren (nicht ISO-) Ausprägungen der Qualität, Qualitätsförderung und Quali­tätssicherung glänzend reüssiert.

Zur Person: Dr. Alfred Gebert hat in den USA Gesundheitswesenforschung (Health Services Research) studiert und ist beratend für öffentliche Institutio­nen tätig. Zu seinen Publikationen gehört „Qualitätsbeurteilung und Evaluation der Qualitätssicherung in Pflegeheimen“ (2. Aufl., Bern 2003). Dieses Buch wurde mit dem Vontobel-Preis für Altersforschung der Universität Zürich aus­gezeichnet.

Quelle: Newsletter www.haelfte.ch

Präventive Sozialpolitik

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Rudolf H. Strahm referierte vor SozialarbeiterInnen

Hälfte / Moitié / An der Berner Konferenz für Sozialhilfe, Kindes- und Erwachse­nenschutz (BKSE) referierte am 21. Mai 2012 Rudolf H. Strahm über neueste Trends im Sozialstaat. Er bezeichnete die Arbeitsmarktintegration als präven­tive Sozialpolitik. Die BKSE ist eine Fachorganisation der Sozialarbeitenden in den bernischen Gemeinden.

In einem ersten Teil ging Strahm auf das Armutsrisiko und die Arbeitsmarktintegra­tion ein und deckte Zusammenhänge auf. Die Arbeitslosigkeit bezeichnete er als pri­märe Ursache der Sozial­lasten.

Er wies auch auf das grosse Drama der Jugendarbeitslosigkeit hin, das besonders in der EU grassiert. Fünf Industrieländer in Europa mit Berufslehre hatten schon 2008 vor der vergan­genen Finanzkrise relativ niedrige Jugend-Arbeitslosenquoten von durchschnittlich 7%.Es waren dies Dänemark, Österreich, Deutschland (West), die Schweiz und Holland. Industrie­länder mit vollschulischer Ausbildung ohne Berufs­lehre wiesen zur gleichen Zeit eine wesentlich höhere Durchschnittsquote von 19% Jugend-Arbeitslosigkeit auf. Ein Jahr später, nach der Krise, ergaben sich leicht er­höhte, aber analoge Zahlen: Länder mit Berufslehre wiesen nun eine Jugend-Ar­beitslosigkeit von rund 8%, Länder ohne Berufslehre jedoch bereits von rund 25% Jugendarbeitslosigkeit auf. Spanien hatte im Herbst 2009 insgesamt 43% Ju­gend-Arbeitslosigkeit.

Plädoyer für die Berufslehre

Auch die eidgenössische Volkszählung 2000 ergab, dass Beschäftigte mit einer Be­rufslehre am wenigsten von Arbeitslosigkeit betroffen sind. Im Bereich der working poor wirkt sich der Mangel an Berufsausbildung ebenfalls drastisch aus. Ungenü­gende Ausbildung ist in der Arbeitswelt ein grosses Armutsrisiko. Strahm erinnerte in seinem Referat auch auf die hohen Folgekosten für die Gesellschaft und die Produk­tivitätseinbussen für die Wirtschaft, welche durch fehlende Berufsbildung entstehen. Die Wirtschaft brauche mehr gelernte und weniger ungelernte Arbeitskräfte, so lau­tete der Appell von Strahm. Er bezog sich auf seine Publikation „Warum wir so reich sind. Wirtschaftsbuch Schweiz“.

Berufsbildung sei die beste soziale Absicherung gegen Armut und gegen Sozialhilfe­bezug, denn es besteht ein Zusammenhang zwischen Berufsbildung und gesell­schaftlichem Status. Folgende Argumente machte Strahm geltend:

  • ► Nach der Berufslehre kann monatlich 1000 bis 1500 Franken mehr verdient wer­den als ohne Lehre.
  • ► Das Risiko, arbeitslos zu werden, ist mit Berufslehre 3 mal kleiner als ohne Be­rufslehre.
  • ► Wer über eine Berufslehre verfügt, riskiert 2,5 mal weniger, Sozialhilfe zu bezie­hen.
  • ► Mit einer Berufslehre wird der wirtschaftliche Strukturwandel besser bewältigt.
  • ► Mit Berufsbildung und Weiterbildung kann Karriere gemacht werden.

Änderungsvorschläge für die Sozialarbeit

Um Armut zu verhindern und zu bekämpfen, schlägt Strahm eine berufspraktische Ausbildung zur Integration in den Arbeitsmarkt vor. Kritik gilt dem bisherigen Selbst­verständnis der Sozialarbeit, bei der die finanzielle Unterstützung im Vordergrund steht. Den SozialarbeiterInnen wirft er vor, sie würden den Arbeitsmarkt und das Be­rufsbildungssystem nicht genü­gend kennen. Besser wäre es, mehr BerufsberaterIn­nen und LaufbahnberaterInnen anstelle von SozialarbeiterInnen auf den Sozialäm­tern einzusetzen oder die Ausbildung oder Weiterbildung der Sozialarbeiter auf Be­rufsbildungs- und Arbeitsmarktkenntnisse auszudehnen. Eine Möglichkeit bestünde sonst darin, private Sozialfirmen zum Zuge kommen zu lassen.

Grosse Hoffnung macht sich Strahm in Bezug auf die Interinstitutionelle Zusammen­arbeit (IIZ) von allen Leistungserbringern im Sozialwesen. Doch diese funktioniert sowohl auf Bun­des- als auch auf Kantonsebene nur schlecht. Nach Strahm fehlt oft die Führung auf oberster Ebene, es gibt zu viel Bürokratie. Die IIZ wäre jedoch Chef­sache, das heisst Aufgabe der BundesrätIn­nen und der RegierungsrätInnen. Auch mangelt es an Regeln zur Ko-Finanzierung im Case-Management.

Bei der Arbeitsmarktintegration erwähnt Strahm auch die Schwachstelle Wirtschaft. Im ersten Arbeitsmarkt gibt es keinerlei Pflichten der Arbeitgeberschaft zur Integra­tion von Arbeit­nehmerInnen. Nirgends wird die Rolle der Arbeitgeberschaft in diese Sache gesetzlich festgehalten. Auf der Suche nach finanziellen Anreizen zur Ar­beitsintegration schlägt Strahm unter Anderem neue SKOS-Finanzierungsregeln vor.

Die Ablösungsquoten von der Sozialhilfe sind regional sehr unterschiedlich. Bern mit 45% mit seinem Kompetenzzentrum Arbeit ist Spitzenreiter. Es folgt St. Gallen mit rund 43%. Dort wurde die Sozialhilfe an private Sozialfirmen ausgelagert. In Basel geschieht die Arbeitsvermittlung von Staates wegen. Die Ablösungsquote beträgt rund 32 %. Besonders tief ist die Quote in Luzern mit nur 18%

Auf der Suche nach effizienter Arbeitsvermittlung erwähnt Strahm auch das Modell „Passage“ in Winterthur. Von 390 arbeitsfähigen SozialhilfebezügerInnen verzichte­ten nach einem Aufgebot rund 100 Personen auf Arbeit und Sozialrente. Als Anreiz wurde zur Sozialrente ein Zuschlag von Fr. 300.- monatlich gewährt, 53 Personen bezogen nach der Absolvierung von „Passage“ keine Sozialhilfe mehr.

Härtere Gangart gefordert

Im Bereich der Migration schlägt Strahm vor, die Grundkompetenzen der Betroffenen zu standardisieren. Alle, die in der Schweiz bleiben wollen, müssen genügend Schreib-, Sprach- und Rechenkompetenz besitzen, sich in der Alltagsinformatik aus­kennen und über ein zivilrechtliches Grundwissen verfügen. Eine Integrationsverein­barung soll neu als Verpflichtung ins AusländerInnengesetz aufgenommen werden. Deswegen fordert Strahm die Unterstützung der vorgesehenen Revision des Aus­ländergesetzes, wie sie vom Bundesrat vorgeschlagen werde. Das Motto sei: För­dern und fordern.

Zum Schluss seines Referates widmete sich Strahm noch dem Thema des Sozial­hilfemissbrauches. Angebliche oder echte Missbrauchsfälle würden den Sozialge­danken und die Solidarität zerstören. Das Sozialsystem sei „zugeschnitten auf die arbeitswillige, integrierte Bevölkerung“, Mit dem Sozialhilfemissbrauch würde das Wertsystem: Sozialhilfe an unverschuldet Arme in Frage gestellt. Es gelte nun, die Missbräuche rigide zu be­kämpfen und das Vertrauen der Bevölkerung in das Sozial­system herzustellen.

Kritisches Echo bei den Fachleuten

In der kurzen anschliessenden Diskussion stellte ein Sozialarbeiter einer bernischen Gemeinde an den Referenten die Frage, wie denn in Arbeit integriert werden solle, wenn es nicht genügend Arbeit gibt. Strahm stellte fest, dass es nicht genügend Ar­beit für die Unqualifizierten gäbe, die Qualifizierten holten wir uns aus dem Ausland. Ein anderer Kritiker stellte lako­nisch fest, dass die Inter-Institutionelle Zusammenar­beit (IIZ) zwischen den LeistungserbringerInnen zu einem Kampfplatz der JuristInnen geworden ist. Alle LeistungserbringerInnen hätte heute dieselbe Vorgabe, nämlich möglichst viele Hilfesuchende abzuwimmeln. So hätten die LeistungserbringerInnen ihre Rechtsdienste aufgestockt. Diese führten nun gegen die anderen Leistungser­bringerInnen oft einen regelrechten Krieg.

(Quelle u.a.: PPP von Rudolf H. Strahm)

Zur Person: Rudolf H. Strahm, alt Nationalrat, ehemaliger Preisüberwacher, Präsi­dent Schweizerischer Verband für Weiterbildung SVEB.

Kommentar:

Nicht gebraucht, nicht gerufe­n

Paul Ignaz Vogel

Rudolf H. Strahm hat an der Delegiertenversammlung der Berner Konferenz für Sozial­hilfe, Kindes- und Erwachsenenschutz (BKSE) referiert, wie eine aktivierende Sozi­alpolitik auszusehen hätte. Sein Konzept besticht durch Einfachheit. Strahm lehnt sich unausge­sprochen an die Utopie der Vollbeschäftigung an. Arbeit ist alles und der Ar­beitslohn das einzige Einkommensmodell, das anzu­streben wäre. Vom bedingungslosen Grundeinkommen natürlich kein Wort. Dafür Akti­vierung der Menschen zur Arbeit – auch wenn diese fehlt. Ein Herrschaftsanspruch der Habenden wird sichtbar. Prävention als Ankündigung von Repression. Wird hier mit leeren Versprechungen für die Zukunft noch mehr Druck aufgebaut?

Strahm ist der plausiblen Überzeugung, dass heute auf dem sogenannten Arbeits­markt nur Gelernte gebraucht würden. Als Beweis führte er den Import von Fach­kräften aus dem Ausland an. Eine Nachfrage nach Gelernten bestünde nach wie vor. SchweizerInnen seien von Kindsbeinen an besser zu schulen, AusländerInnen mit Minimalanforderungen zu konfrontieren, damit sie hier bleiben dürfen.

Doch so einfach ist es eben nicht. Zwischen dem utopischen Bild einer aktivierenden Sozialpolitik und den Realitäten unserer Gesellschaft ganz unten, mit den politischen Mehrheitsver­hältnissen in der Schweiz, den bestehenden, immer re­pressiver wer­denden Gesetzen im Sozialen, dem Diktat der internationalen Finanzmärkte, die ge­rettet werden müssen durch Sparen als Politikersatz: Durch all das besteht ein gros­ser Graben, in welchen die Benachtei­lig­ten fallen. Es geht um fast eine Million real existierender Menschen in der Schweiz, die im Hier und Jetzt von einer gestaltenden Politik aus­ser Acht gelassen werden. Verachtung durch Verwal­tung. Menschen­rechte ade.

Was heisst es, zur Migration gezwungen worden zu sein? Oder un­gewolltes Opfer eines wegstrukturierten Arbeitsplatzes zu werden? Und was tun, wenn einst erlernte Berufe wegen des rasanten technologischen Wandels wäh­rend der eigenen Berufszeit verschwinden? Wenn jemand den technologischen und strukturbe­dingten Wandel in der Arbeitswelt am eigenen Leib erfahren muss? Und wegen der Dynamik der Entwicklung und der pausenlosen Veränderung der An­schluss an eine effiziente Umschulung und Weiterbildung verpasst wird? Wenn nicht nur der Wille des Gesetz­gebers fehlt, sondern auch die beste­henden Instru­mente versagen? Und die persönliche Kraft und die Ressourcen einmal aufgebraucht sind?

Strahm, ein ehrlicher Mensch, hat zwar in seinem Referat eingestanden, dass die Arbeitgeberschaft in kein Gesetz eingebunden und in keine Pflicht genommen wer­den kann. Womit sein Kon­zept in sich zusam­menbricht. Denn in seinen Über­legun­gen haben gerade die Menschen in Not, die den sozialen Abstieg in ihrer Vita hinneh­men mussten, keinen Platz. Sie dürften in­nerhalb ihres eigenen Le­benslaufes kaum mehr genügend Ausbildung oder/und Weiterbildung erfahren.

Wenn aber jeder politische Gestaltungswille fehlt, der Gedanke des sozialen Frie­dens in der Gesellschaft abhanden gekommen ist und die verheis­sene Ausbildung in utopische Ferne ge­rückt wird, bleibt nur noch die Wundversor­gung der Opfer im neo­liberalen Wirtschaftskrieg gegen die Bevölkerungen auf der ganzen Welt. Sprich: Ge­setzlich besser geregelte humane Be­dingungen zur Pflege der Einzelopfer, im Sinne eines Henri Dunant. Und es bleibt die soziale Frage.

Kommentar:

Wer treulich arbeitet

Oswald Sigg

Einleuchtend zunächst, was Rudolf Strahm zur Berufsbildung sagt. Die Wirtschaft braucht berufsgelernte Arbeitskräfte. AbsolventInnen einer Berufslehre sind weniger als andere von der Arbeitslosigkeit oder vom Armutsrisiko heimgesucht. Deshalb bezahlt die Wirtschaft diesen bis 1‘500 Franken mehr (monatlich!) als den Ungelernten. Mit einer Berufsbildung kann man aber auch viel besser Karriere machen und dann kriegt man monatlich erst noch mehr als die 1‘500 Franken, die man allein schon der Berufslehre wegen mehr erhalten hat. Auch wenn mittlerweilen selbst Daniel Lampart vom Schweizerischen Gewerkschaftsbund (SGB) öffentlich davon spricht, eine Lehre sei in der Schweiz leider auch keine Garantie mehr für einen Lohn, der zum leben ausreiche, muss man dennoch Strahms Erkenntnisse auf den Punkt bringen: wären nur alle Arbeitnehmenden mindestens berufslehregebildet, würden sie allesamt in den Arbeitsmarkt integriert und die öffentliche Sozialhilfe könnte glatt abgeschafft werden.

So taucht es wieder einmal auf, das Märchen von der Vollbeschäftigung und jenes vom Arbeitsmarkt. Mitten in der europäischen Realität, geprägt von 25 Millionen Lohnarbeitslosen. Da, wo eben gerade tagtäglich mit betriebswirtschaftlicher Effizienz Tausende von Arbeitsplätzen in der Substanz verunstaltet, global verschoben oder kurzerhand vernichtet werden. Im Hintergrund der Strahm‘schen Power Point-Präsentation wetterleuchtet aber auch das allzu simple Verständnis von der Arbeit als Lohnarbeit und dass der Mensch allein damit den Anspruch auf die Würde und die Erfüllung seines Lebens erwirbt. Die Arbeit zum redlichen Erwerb des Glücks auf Erden. Und es wäre auch die schematische Darstellung der Lohnarbeits-Ideologie zu optimieren: Arbeit = Lohn / mehr Arbeit = mehr Lohn / mehr Ausbildung = noch bessere Arbeit = noch mehr Lohn usw. Die Moral dieses Märchens: der Arbeitsmarkt ist eine Fiktion, die Vollbeschäftigung eine Halluzination. Aber was bedeutet eigentlich das Wort Arbeit?

Die Arbeit wird gemeinhin als zweckgerichtete körperliche und geistige Tätigkeit des Menschen bezeichnet. Noch im frühen Mittelalter wurde unter dem deutschen Begriff Arbeit vorwiegend Mühsal, Plage oder Anstrengung verstanden, in den altslawischen und russischen Sprachräumen war rabota (Arbeit) der Inbegriff für Knechtschaft und Sklaverei. Erst mit Martin Luther bekommt die Arbeit auch eine positive Bedeutung: „Wer treulich arbeitet, betet zwiefältig“. Das wäre dann die Formel: Arbeit = Gebet = Himmel. Über Jahrhunderte hinweg war und ist mit der Arbeit ein Zwang verbunden. „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“ – das mittelalterliche Sprichwort gilt heute mit der Lohnarbeit unverändert. Die Arbeit erschöpft sich aber gar nicht in der Lohnarbeit. Diese ist nur das Trinkgeld des Arbeitsmarkts. Die meiste, ja die grosse Arbeit wird unbezahlt geleistet, weil sie ein Prozess ist, der Mensch, Gesellschaft und Natur gestaltet und dauernd verändert.

Ich habe von einer Lesung in den sechziger Jahren im Zürcher Hechtplatztheater noch den greisen Ernst Bloch in Erinnerung, wie er die letzten Sätze aus seinem Prinzip Hoffnung vortrug:

„Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfasst und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“

Die Arbeit neu verteilen

Geschrieben von Oswald Sigg. Veröffentlicht in andere Länder

Kurzfassung der Rede von Oswald Sigg vor der Generalversammlung der Gewerkschaft UNIA Biel/Seeland am 28. April 2012 im Kongresszentrum Biel / Bienne.

Die Arbeit umverteilen – was soll dieser Titel, werdet ihr euch fragen. Bis jetzt haben wir doch immer eine Umverteilung des wachsenden Reichtums gefordert. Das ist richtig so und diese Forderung halten wir weiterhin aufrecht. Denn der Reichtum eini­ger weniger wird zum grössten sozialen und politischen Problem in diesem Land.

Vermögensverteilung in der Schweiz: 1 = 99

Stellt euch vor: Jeder zehnte Milliardär auf der Welt wohnt in der Schweiz. Warum wohl? Weil man hier sein Vermögen für ein Trinkgeld besteuert. Ein Prozent der in der Schweiz wohnhaften privaten Steuerpflichtigen besitzt gleich viel Vermögen wie die restlichen 99 Prozente. Das ist die 1:99%-Schweiz.

Die Vermögen der 300 Reichsten stiegen in den letzten 20 Jahren von 86 Milliarden auf 459 Milliarden Fran­ken. Demgegenüber lebten im Jahr 2011 fast 8 % der Bevöl­kerung unter der Ar­mutsgrenze von 2‘243 Franken monatlichem Einkommen. Anders gesagt: 586‘000 Menschen haben in diesem reichen Land nicht mehr genug zum leben.

Die ganze Steuer- und Abgabenpolitik sorgt dafür, dass der Reichtum dort gedeiht und wächst, wo er ist. Stattdessen leiden die Bezüger von tiefen und mittleren Einkommen unter indirekten Steuern, Abgaben, Gebühren, Krankenkassenprämien, Mieten. Vielen Leuten aus diesen Einkommensschichten bleibt netto 1‘300 Franken weniger übrig, als noch vor 10 Jahren.

Es gibt weltweit fast kein zweites Land, in dem der Unter­schied zwischen arm und reich so krass ist, wie bei uns. Die Arbeitgeber bekämpfen die Mindestlohninitiative der Gewerkschaften mit dem Argument: „Nicht jeder Lohn kann existenzsichernd sein.“ Haben wir denn allen Ernstes dafür die öffentliche Sozi­alhilfe?

Dank Gewerkschaften steigende Mindestlöhne

Eine löbliche Ausnahme ist hier zu erwähnen. Die aktive gewerkschaftliche Politik hat dazu geführt, dass die Tiefstlöhne im Dienstleistungsbereich angehoben worden sind. Der neue SGB-Verteilungsbericht zeigt, wie etwa im Detailhandel und im Gastgewerbe die Mindestlöhne seit 1988 teilweise um über 40% gestiegen sind.

Diese nüchternen Zahlen sind gesamthaft aber doch das Abbild einer Sozialpolitik mit umgekehrten Vorzeichen. Umverteilt wird noch immer nach oben, gegeben wird denen, die schon viel haben. Dank einer asozialen Politik der schamlosen Reichtumsakkumula­tion. Gefördert durch kommunale und kantonale Steuer- und Siedlungspolitiken und auf Bundesebene durch die skandalöse Unternehmenssteuerreform II. Jetzt kommt noch hinzu, dass die Arbeitgeber die Renten senken, das Rentenalter erhöhen und die Unternehmenssteuern noch mehr reduzieren wollen.

Brutale Arbeitswelt

Anderseits ist da die immer brutaler und rücksichtsloser werdende Arbeitswelt. Dazu nur ein paar Unternehmen und Zahlen:

Osterwalder Lyss: minus 30 Arbeitsplätze.
Papierfabrik Biberist: 454 Arbeitsplätze vernichtet.
Papierfabrik Balsthal: 42 Entlassungen.
Forteq Nidau: 25 Stellen aufgehoben.

Der jüngste Fall: Merck Serono in Genf – 1‘300 Arbeitsplätze stehen vor der Aufhe­bung. Der Alinghi-Segler Bertarelli hatte beim Verkauf von Merck zwischen 10 und 16 Milliarden Franken unter anderem mit dem Versprechen erzielt, die Firma bleibe in Genf.

Ende letzten Jahres zog die Tagesschau des Schweizer Fernsehens eine vorläufige Bilanz vom Arbeitsplatzabbau in der Schweiz: Credit Suisse, Novartis, Huntsman, Schindler, Swissmetal, UBS, Nobel Biocare, Alpiq etc. sind nur die grössten Beispiele von Unternehmen, die insgesamt Tausende von Arbeitsplätzen abgebaut haben.

Die Desindustrialisierung geht weiter. Die Arbeitslosigkeit geht weiter.

Das Geld bestimmt die Politik

Das Geld, der Besitz – sie bestimmen nicht nur die Wirtschaft und die Sozialpolitik, sondern auch und gerade die Politik in unserer direkten Demokratie. Wir sind das Volk. Aber die Volkspartei macht mit ihrem Geld für uns die Politik. Besser gesagt: gegen uns.

So ist es doch: ich kann nur immer wieder auf denselben Umstand hinweisen: jene Partei, die mit Abstand am meisten Geld für Wahlen, Abstimmungen und Initiativen zur Verfügung hat, jene Partei, von der man nicht weiss, woher sie wie viel Millionen erhält und die ihre Spenden gern und seltsamerweise in grösseren Köfferli mit ein paar hundert Tausendernoten drin entgegennimmt, diese Partei, die SVP, ist noch immer die grösste Partei und sie ist seit 25 Jahren auf einem Erfolgskurs, der nur gerade im letzten Herbst einen hoffentlich nur ersten Einbruch erlitten hat.

Die Schweiz ist das einzige Land in Europa und weit darüber hinaus, das weder ein Spenden- noch ein Parteiengesetz kennt, das die private oder öffentliche Finanzie­rung dieser staatstragenden Institutionen regelt. Im Unterschied zu vielen anderen Ländern gibt es in der Schweiz auch keinerlei Einschränkungen der politischen Wer­bung. Mit Ausnahme des Verbots der politischen Werbung in Radio und Fernsehen. Das allerdings etwa von den Grossbanken regelmässig gebrochen wird. Auch in die­sem für eine direkte Demokratie hoch sensiblen Bereich können die Arbeitgeber mit ihrer Economiesuisse buchstäblich schalten und walten, wie sie wollen. Haben sie früher mit der Wirtschaftsförderung wenigstens noch die Politik des Bundesrates un­terstützt, so schwenken sie heute auch einmal an den rechtsbürgerlichen Rand ab. Gegen die Minarettverbotsinitiative haben sie keine Plakate geschaltet. Und prompt ist sie angenommen worden.

Solange die Parteienfinanzierung in erster Linie, aber auch solange die Finanzierung der politischen Werbung nicht geregelt ist, kann und muss man leider weiterhin von der käuflichen Schweiz sprechen.

Das Geld degeneriert die Sozialpolitik

Das Geld hat auch und gerade in der Sozialpolitik verheerende Auswirkungen. Die immer noch grösste Partei versteht es seit Jahren, alle Sozialhilfebezüger als Scheinasylanten, Sozialschmarotzer, im Zweifelsfall als Kriminelle hinzustellen. In der Sozialarbeit Tätige werden als „Gutmenschen“ verhöhnt. Die öffentliche Verach­tung, der Argwohn und das Misstrauen, das man ganz allgemein Menschen in Notla­gen entgegenbringt, führen dazu, dass vermutlich die Hälfte der Anspruchsberech­tigten auf soziale Unterstützung und Begleitung sich gar nicht erst am Schalter des Sozialamts meldet. 50 % ist eine Dunkelziffer. Die Politiker interessiert sie eigentlich nicht gross. Man schaut da lieber weg. Aber im Endeffekt reduziert diese Stigmatisie­rungspolitik natürlich die Kosten der Sozialhilfe. Das zu sagen ist zwar zynisch, aber leider wahr.

Die verletzte Würde des Menschen

In meiner Arbeit für den sozialpolitischen Mediendienst „Hälfte/Moitié“ treffe ich auf Menschen, die Opfer dieses Systems geworden sind.

Da ist die IV-Rentnerin, der die lieben Nachbarn ihre kleine Welt zur Hölle machen. So dass sie nur noch in einem Zustand chronischer Verzweiflung lebt.

Da ist der gesundheitlich stark angeschlagene Elektriker, der die Tage zählt, bis er die AHV erhält und nicht mehr vom Sozialdienst abhängig ist, weil man ihn dort schi­kaniert.

Da ist der politische Flüchtling aus Afrika, seit sieben Jahren in der Schweiz, seit sie­ben Jahren arbeitslos. Der Mann hilft den Bauern im Seeland bei der Gemüseernte. Für einen Stundenlohn von 4 Franken.

Und da gibt es noch bernische Gemeinden, die private Sicherheitsfirmen mit der Kontrolle und Überwachung solcher Sozialhilfebezüger beauftragen.

Das ist dann der Gipfel des sozialpolitischen Zynismus. Und der gemeinsame Kern aller dieser sogenannten „Sozialfälle“: das ist die grobe Verletzung der Würde dieser Men­schen.

Das Bedingungslose Grundeinkommen

Das ist die Wirkungsweise unserer Sozialpolitik. Viele Bereiche der Sozialhilfe werden privatisiert. Genau so werden die Schulen und die Hoch­schulen – überhaupt ein grosser Teil des Bildungsbereichs - zum Geschäft gemacht. Namentlich bei der Bildung zählt immer mehr das Geld, das der Einzelne hat oder eben nicht hat. Ganz allgemein wächst in der Gesellschaft die Chancenungleichheit in krassem Ausmass. Alles dies und auch die Tatsache, dass wir immer weniger Lohnarbeit zur Verfügung haben werden, haben mich dazu motiviert, mitzuhelfen, die Idee des Bedingungslosen Grundeinkommens mit einer Volksinitiative öffentlich zur Diskussion zu stellen.

Dabei geht es in erster Linie um die Menschenwürde. Seit langem wieder einmal eine Initia­tive, die nicht die Menschenrechte ritzt, tangiert oder umgeht, sondern im Gegenteil mit einem allgemeinen Anspruch auf ein Grundeinkommen, mit einem neuen Grund­recht soziale Ungerechtigkeit abbauen will.

Die Arbeit neu verteilen

Bezüglich der Arbeit unterscheiden wir zwischen bezahlter Arbeit, freiwilliger Arbeit und unbezahlter notwendiger Arbeit. Letztere entspricht 50% aller heute insgesamt geleisteten Arbeitsstunden.

Auf dem Arbeitsmarkt werden die Arbeitnehmer und ihre Gewerkschaften mit einem Grundeinkommen auf Augenhöhe mit den Arbeitgebern verhandeln können. Vor al­lem: die Arbeitnehmer werden nicht mehr aus finanziellen Gründen gezwungen sein, eine, manchmal auch jede Arbeit anzunehmen. Man kann sie nicht mehr erpressen. Sie wählen jene Arbeit, die sie tun wollen. Die Stellung der Gewerkschaften wird mit dem Grundeinkommen massiv verbessert. Soziale Auseinandersetzungen, Arbeits­kämpfe, Vertragsverhandlungen überall dort, wo es nicht nur um Geld sondern ums Ganze geht – diese Arbeitskämpfe werden alle neu positioniert und programmiert durch ein Grundeinkommen für alle, gerade auch für die bisherigen Lohnabhängigen. Damit werden nicht nur das Geld, sondern auch die Macht und die Arbeit neu verteilt.

Hauptsächlich zwei Fragen stellt man uns zum Grundeinkommen.

Wer arbeitet dann noch? Alle Leute werden weiter arbeiten, aber nicht unbedingt dasselbe und ihre Lohnarbeit kann zugunsten anderer Arbeit reduziert werden. Das Grundeinkommen wird es jedem Men­schen erlauben, das zu tun, was ihn interessiert und was er als sinnvoll und seinen Fähigkeiten angemessen erachtet. Daneben wird er sich vermehrt der Familienarbeit und dem freiwilligen sozialen, politischen oder kulturellen Engagement widmen kön­nen. Auch für den Sport, für die Bewegung bleibt mehr Zeit übrig als bisher.

Die solidarische Finanzierung

Wer finanziert uns das Grundeinkommen? Die Initiative überlässt die konkrete Ant­wort auf diese Frage dem Gesetzgeber. In ersten Diskussionen zu dieser Frage wird auch von Mitinitianten auf eine Restfinanzierung des BGE über eine stark erhöhte Mehrwertsteuer verwiesen. Das ist meines Erachtens ein grundfalscher Ansatz. Zum grossen Teil kann das BGE über die Umlagerung der bisherigen Sozialversicherungen finan­ziert werden. Es verbleibt ein Rest, der auf 20 bis 30 Milliarden Franken veranschlagt wird.

Für mich kommt natürlich dafür eine Konsumsteuer, die ohnehin die Schwächsten trifft, nicht in Frage. Ich denke vielmehr an das Gegenteil, an eine Ver­mögensabgabe, an eine Reichtums- und/oder an eine Finanztransaktionsbesteue­rung. Die Rei­chen haben schon die AHV nicht nötig gehabt. Aber wie die AHV wird auch das Grundeinkommen die Reichen nötig haben. Das wäre dann eine solidari­sche Finan­zierung. Und die 1:99%-Schweiz bietet hierzu die besten Voraussetzun­gen.

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