Armes Luxemburg? Pauvre Luxembourg?
Ende April 2012 ging im Musée de la Ville de Luxembourg die Ausstellung „Armes Luxemburg? Pauvre Luxembourg?“ zu Ende. Sie zeigte profunde Einblicke in Dimensionen der Armut in Luxemburg und der Welt, von der Zeit der Formulierung der „Sozialen Frage“ um 1850 bis heute.
Um es vorweg zu nehmen: In der Ausstellung „Armes Luxemburg?“, die insgesamt eine eindrückliche Dokumentation europäischer Sozialgeschichte ist, findet die Schweiz nur am Rande Erwähnung.
In einem kleinen Raum wird ein Dutzend politischer Plakate gezeigt. Sie halten fest, wie die Wohlfahrtsinsel Europa heute auf die Immigration reagiert. Mit Abwehr, aber auch mit Integration. Die deutlichste Sprache findet sich auf drei Plakaten aus der Schweiz. Sie ist um ihren Wohlstand besorgt. „Ärmer werden, Freiheit verlieren“, prangt mit grossen Buchstaben auf dem Plakat der AUNS gegen den EU-Beitritt. „Sicherheit verlieren? Arbeit verlieren? Schengen NEIN!“ sagt die SVP zum selben Thema oder „Sicherheit schaffen“ ist das Sujet der Ausschaffungsinitiative, die bildhaft die Immigranten als schwarze Schafe darstellt.
Der Sozialstaat zerfällt
Doch gehen wir zurück zur Geschichte des Staates als sozialem Gemeinwesen. In vor- und unterindustrialisierten Ländern trifft man auf die sogenannt integrierte Armut. Grosse Teile der Bevölkerung sind arm, aber sie bilden keine marginalisierte Unterklasse und sie werden nur schwach stigmatisiert. Starkes Bevölkerungswachstum und die Ausbreitung industrieller Produktion führen im Europa des 19. Jahrhunderts zur Verelendung vieler lohnabhängiger Menschen und ihrer Familien. Die bis anhin private Armenfürsorge ist dem Massenelend nicht gewachsen. Industrie und Kirche schaffen zunächst die Netzwerke, welche die neuartige Armut aufzufangen versuchen. Wer es sich leisten kann, wandert nach Amerika aus. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts reagiert man auch in Luxemburg gemäss dem Beispiel Bismarcks. Die Kranken- und Arbeitsunfallversicherung wird errichtet.
Nach dem Zweiten Weltkrieg bauen die westlichen wie die sozialistischen Staaten ihre Sozialsysteme aus. Im Osten garantiert der Staat einen niedrigen, aber ausreichenden Lebensstandard. In Westeuropa hingegen entstehen mit und nach dem Wirtschaftswunder zugleich die marginale wie die ausschliessende Armut. Einerseits ist jetzt nur noch ein relativ kleiner Teil der Bevölkerung arm. Er wird mit einem engmaschigen sozialen Netz unterstützt. Die Armutsbetroffenen werden stigmatisiert und gelten als soziale Problemfälle. Anderseits „produziert“ die Wirtschafts- und Leistungsgesellschaft auch eine wachsende Zahl von Arbeitnehmern, die sich in einem Prozess des gesellschaftlichen Abstiegs befinden. Dieser ist gekennzeichnet durch geringes Einkommen, prekäre Gesundheits- und Wohnumstände, Fragilität familiärer und sozialer Beziehungen, geringe Teilnahme am gesellschaftlichen Leben und durch eine mindestens temporäre Abhängigkeit von öffentlichen Sozialleistungen. Dessen ungeachtet wird seit den 1990er Jahren der Sozialstaat europaweit zurückgefahren. Die Sozialpolitik gerät unter massiven Druck der globalisierten Wirtschaft. Die hoch verschuldeten Staaten sparen auch und gerade auf Kosten der Bedürftigen. Sozialabbau und gesellschaftliche Verwerfungen sind die Folgen
Die Armenpflege in Luxemburg
Blicken wir zurück zu den Anfängen öffentlicher Sozialhilfe. Im 19. Jahrhundert verhindern in Luxemburg in erster Linie die sozialen Netzwerke der Kirchen in vielen Fällen die tiefste Armut. Zusammen mit den Wohlfahrtsinstitutionen der Industrie sind sie vor allem in den Städten präsent. Auf dem Land hingegen verfügen selbst viele Arme oft über ein eigenes kleines Stück Land. Die Gemeinde erlaubt ihnen zudem, Gemeindeeigentum zu nutzen. Im kommunalen Wald sammeln sie trockenes Holz als Brennstoff und ihre Ziegen dürfen die Grasränder der Gemeindestrassen und –Wege abweiden. Gerade auf dem Land finden sich aber auch Bedürftige, die betteln. Vor allem die wandernden und heimatlosen Bettler geraten immer mehr unter staatlichen Druck und werden zunehmend kriminalisiert, während die sesshaften „Hausarmen“ oder Arbeitsunfähigen von der kommunalen Armenfürsorge bevorzugt behandelt werden. Waisen und verlassene Kinder bringen die Gemeinden bei Handwerksmeistern oder Bauern im Rahmen von Hauspflegeschaften unter.
Industrialisierung, Bevölkerungswachstum und Missernten führen ab ca. 1850 zu staatlichen Massnahmen gegen Hunger und Armut. Die kommunalen Verwaltungen werden angewiesen, ihre wohlhabenden Einwohner zu Spenden aufzufordern, Haussammlungen durchzuführen und lokale Wohltätigkeitsbüros zu errichten.
Als Folge des wirtschaftlichen Aufschwungs im Grossherzogtum Luxemburg während des 19. Jahrhunderts wachsen die öffentlichen Aufwendungen für die Armenfürsorge. Der Anteil der als „arm“ anerkannten Menschen an der luxemburgischen Gesamtbevölkerung sinkt um zwei Drittel.
Solidarische Wirtschaft
In Luxemburg steht die Sozialpolitik seit langem für die Bekämpfung des Exklusionsrisikos. Man will vermeiden, dass Menschen infolge Krankheit oder Arbeitslosigkeit gesellschaftliche Ausgrenzung erfahren müssen. Solche Desintegration kann auf drei Ebenen entstehen:
- Durch eine Marginalisierung am Arbeitsmarkt bis hin zum Ausschluss der Erwerbsarbeit.
- Durch die Einschränkung sozialer Beziehungen bis hin zur Isolation.
- Durch Ausschluss gesellschaftlicher Partizipation und Verhinderung anerkannter Lebensstandards.
Die soziale Arbeit operiert auf diesen Ebenen mit Reintegrationskursen und Bewerbertrainings, mit Obdachlosen-, Arbeitslosen- und Familienhilfe und mit gesundheitlichen Angeboten sowie mit dem „Empowerment“, das heisst der Entwicklung von Eigeninitiative, Engagement und Selbstbewusstsein. Der allgemeine Rahmen aller dieser Massnahmen besteht in der Einbindung der Betroffenen in lokale Nachbarschafts- und Quartiermilieus.
Die luxemburgische Sozialpolitik arbeitet heute mit gemeinwesenorientierten und solidar-ökonomischen Ansätzen. Diese umfassen sowohl Projekte zur wirtschaftlichen Selbsthilfe wie auch Wohngenossenschaften, Tauschringe bis hin zu Sozialbetrieben und gemeinnützigen Unternehmen. Daraus hat sich eine eigenständige Gemeinwesenökonomie entwickelt, die von der Abteilung „Économie solidaire“ des luxemburgischen Wirtschaftsministeriums koordiniert wird (www.ecosolux.lu).
Der gemeinsame Nenner aller dieser sozialpolitischen Ansätze ist die Bekämpfung von Armut und Ausgrenzung durch die Einbindung der betroffenen Menschen in die Quartiere und Nachbarschaften. Es ist eine kluge Rückkehr zu den Formen der kommunalen Fürsorge im 19. Jahrhundert. In der Ausstellung wird aber davor gewarnt, diese Rückkehr als Alternative zur Marktwirtschaft oder als neoliberaler Versuch zum Abbau des Sozialstaates zu verstehen. Und es wird an Amartya Sen, den indischen Ökonomen, erinnert, der die „Freiheit des einzelnen als soziale Verpflichtung“ dargestellt habe.
Armut als Krankheit
Die Luxemburger Ausstellung wartet mit einer minutiösen Darstellung der Krankheiten auf, die bis vor 200 Jahren bei den Armen gang und gäbe waren. Rachitis, Tuberkulose, Parasitenbefall, Läuse, Flöhe, Krätzmilben, Wanzen und verschiedene Geschlechtskrankheiten. Die Armut an sich ist eine Krankheit oder vielmehr eine „soziale Pathologie“, wie sie im Nachwort zum Ausstellungskatalog der Psychiater und Psychoanalytiker Paul Rauchs unter dem Titel „Das Syndrom des leeren Portemonnaies“ beschreibt. Und er fügt der Liste noch ein paar weitere Krankheiten hinzu: Typhus, Cholera, Malaria, Unterernährung und Fettleibigkeit, Drogensucht und Alkoholismus. Noch heute aber gehe das „imaginaire populaire“ davon aus, dass der Arme eigentlich nur unter dem leidet, was er auch verdient hat. Dies sei eine aus den Gewissensbissen der Reichen entstandene Schuldprojektion. Auch die Wohltätigkeit (Charity) sei das Produkt eines neurotischen Schuldempfindens in einer jüdisch-katholischen Tradition. Auf der andern Seite steht das Etikett der Armut als Schande. Es ist der Urgrund für die gesellschaftliche Isolation der Armut und ihrer Angehörigen.
Doch der Psychiater Rauchs scheint letztlich nicht die Armut selbst, sondern die archaische Angst davor, arm zu werden, als Krankheit zu bezeichnen. Je reicher man wird, umso grösser wird die Angst, zu verlieren. Das führt direkt zum Exhibitionismus: nämlich dazu, die äusseren Zeichen des Reichtums zu demonstrieren. Damit zu prahlen und zu protzen. Dies kann man ja auch im Rahmen eines Charity-Events tun. Dann ist das Angenehme mit dem Nützlichen optimal verbunden.
Quelle: ARMES LUXEMBURG? PAUVRE LUXEMBOURG? Musée d’histoire de la ville de Luxembourg, Maire-Paule Jungblut et Claude Wey, ISBN 978-3-943157-09-3, Luxembourg 2011. www.mhvl.lu