Richter tadeln Asylpolitik der Regierung

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Asylbewerber in Deutschland können auf eine Anpassung der Höhe der Geldleistungen hoffen - nach fast 20 Jahren. Die Richter des Bundesverfassungsgerichts äußerten deutliche Zweifel daran, ob die Leistungen für Asylbewerber ausreichend sind. Es bestehe eine "ins Auge stechende Differenz" zwischen den Hartz-IV-Sätzen und den deutlich niedrigeren Geldleistungen für Asylbewerber, sagte der Vizepräsident des Gerichts, Ferdinand Kirchhof, in der mündlichen Verhandlung in Karlsruhe.

Während ein Hartz-IV-Empfänger einen Regelsatz von 364 Euro pro Monat erhalte, seien es bei Flüchtlingen etwa 220 Euro, sagte Kirchhof. Hinzu komme, dass die Berechnung der Leistung für Asylbewerber "weder erklärt noch dokumentiert" wurde. Die Leistungen müssten sich genauso wie die Hartz-IV-Sätze "am Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums messen lassen", sagte Kirchhof.

Der Rechtsvertreter der Bundesregierung, Kay Hailbronner, wies diesen Anspruch zunächst zurück. Die Menschenwürde müsse "im Zusammenhang mit der Migrationspolitik auf europäischer Ebene gesehen werden". Zu hohe "materielle Aufwendungen" würden Flüchtlingsströme europaweit beeinflussen und hätten womöglich eine unerwünschte Lenkungswirkung.

"Menschenwürde kann nicht differenziert"

Kirchhoff kritisierte diese Ausführungen scharf: "Ein bisschen Hunger, dann gehen die schon, das kann doch nicht sein!" Hailbronner erklärte daraufhin, Essen, Kleidung und Unterkunft sollten Asylbewerber schon erhalten. Aber Gelder für ein "sozio-kulturelles Existenzminimum" nicht. In den EU-Aufnahmerichtlinien stehe nichts von Teilhabe am sozio-kulturellen Leben, betonte Hailbronner.

Damit provozierte er erneut Widerspruch: "Die Menschenwürde kann nicht differenziert werden aus einem migrationspolitischen Interesse heraus", sagte Verfassungshüter Johannes Masing. Und Richter Reinhard Gaier betonte, dass die menschenwürdige Existenz mehr als nur die Befriedigung elementarer Befürfnisse sei: "Nahrung allein genügt nicht, der Mensch lebt auch in sozialen Beziehungen."

Preise um rund ein Drittel gestiegen

Die Leistungen für Asylbewerber und andere Menschen ohne dauerhaftes Aufenthaltsrecht wurden in Deutschland seit 1993 nicht mehr erhöht. In dieser Zeit sind die Preise den Angaben des Statistischen Bundesamts zufolge durchschnittlich um rund ein Drittel gestiegen.

Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen hielt die Beträge daher für zu niedrig und legte das Gesetz in Karlsruhe zur Prüfung vor. Ursprünglich galt das Asylbewerberleistungsgesetz nur für Flüchtlinge während des Asylverfahrens; die Anwendung wurde aber inzwischen auf andere Menschen ohne dauerhaftes Aufenthaltsrecht ausgeweitet. Derzeit seien rund 130.000 Menschen betroffen, zwei Drittel von ihnen lebten seit mehr als sechs Jahren in Deutschland, sagte die Berichterstatterin des Verfahrens, Verfassungsrichterin Susanne Baer.

Anhand der Kläger der beiden Ausgangsverfahren werde aber deutlich, dass von der Regelung auch Menschen betroffen seien, die längerfristig in Deutschland blieben, sagte Klägeranwältin Eva Steffen: Einer der Kläger, ein Kurde, war 2003 aus dem Irak geflohen. Er wird seither in Deutschland geduldet. Die Klägerin des zweiten Verfahrens, ein elfjähriges Mädchen, wurde sogar in Deutschland geboren. Ihr Mutter war aus Nigeria geflohen. Inzwischen hat das Kind die deutsche Staatsangehörigkeit.

Regierung hat keinen Zeitplan

"Wir haben uns auf den Weg gemacht, das Asylbewerberleistungsgesetz zu überarbeiten", sagte die Staatssekretärin im Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Annette Niederfranke. "Auf diesem Weg haben wir noch nicht alle Schwierigkeiten zufriedenstellend gelöst." Den Anspruch jedes Menschen auf ein menschenwürdiges Existenzminimums erkenne die Bundesregierung an. Dabei habe der Gesetzgeber aber einen Spielraum.

Ein konkretes Datum für einen neuen Entwurf konnte die Staatssekretärin nicht nennen. Verfassungsrichter Reinhard Gaier war damit nicht zufrieden: "Warum haben Sie nicht wenigstens eine Zwischenlösung? Es geht um das menschenwürdige Existenzminimum."

Quelle: tagesschau.de vom 20.6.2012