Präventive Sozialpolitik

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Rudolf H. Strahm referierte vor SozialarbeiterInnen

Hälfte / Moitié / An der Berner Konferenz für Sozialhilfe, Kindes- und Erwachse­nenschutz (BKSE) referierte am 21. Mai 2012 Rudolf H. Strahm über neueste Trends im Sozialstaat. Er bezeichnete die Arbeitsmarktintegration als präven­tive Sozialpolitik. Die BKSE ist eine Fachorganisation der Sozialarbeitenden in den bernischen Gemeinden.

In einem ersten Teil ging Strahm auf das Armutsrisiko und die Arbeitsmarktintegra­tion ein und deckte Zusammenhänge auf. Die Arbeitslosigkeit bezeichnete er als pri­märe Ursache der Sozial­lasten.

Er wies auch auf das grosse Drama der Jugendarbeitslosigkeit hin, das besonders in der EU grassiert. Fünf Industrieländer in Europa mit Berufslehre hatten schon 2008 vor der vergan­genen Finanzkrise relativ niedrige Jugend-Arbeitslosenquoten von durchschnittlich 7%.Es waren dies Dänemark, Österreich, Deutschland (West), die Schweiz und Holland. Industrie­länder mit vollschulischer Ausbildung ohne Berufs­lehre wiesen zur gleichen Zeit eine wesentlich höhere Durchschnittsquote von 19% Jugend-Arbeitslosigkeit auf. Ein Jahr später, nach der Krise, ergaben sich leicht er­höhte, aber analoge Zahlen: Länder mit Berufslehre wiesen nun eine Jugend-Ar­beitslosigkeit von rund 8%, Länder ohne Berufslehre jedoch bereits von rund 25% Jugendarbeitslosigkeit auf. Spanien hatte im Herbst 2009 insgesamt 43% Ju­gend-Arbeitslosigkeit.

Plädoyer für die Berufslehre

Auch die eidgenössische Volkszählung 2000 ergab, dass Beschäftigte mit einer Be­rufslehre am wenigsten von Arbeitslosigkeit betroffen sind. Im Bereich der working poor wirkt sich der Mangel an Berufsausbildung ebenfalls drastisch aus. Ungenü­gende Ausbildung ist in der Arbeitswelt ein grosses Armutsrisiko. Strahm erinnerte in seinem Referat auch auf die hohen Folgekosten für die Gesellschaft und die Produk­tivitätseinbussen für die Wirtschaft, welche durch fehlende Berufsbildung entstehen. Die Wirtschaft brauche mehr gelernte und weniger ungelernte Arbeitskräfte, so lau­tete der Appell von Strahm. Er bezog sich auf seine Publikation „Warum wir so reich sind. Wirtschaftsbuch Schweiz“.

Berufsbildung sei die beste soziale Absicherung gegen Armut und gegen Sozialhilfe­bezug, denn es besteht ein Zusammenhang zwischen Berufsbildung und gesell­schaftlichem Status. Folgende Argumente machte Strahm geltend:

  • ► Nach der Berufslehre kann monatlich 1000 bis 1500 Franken mehr verdient wer­den als ohne Lehre.
  • ► Das Risiko, arbeitslos zu werden, ist mit Berufslehre 3 mal kleiner als ohne Be­rufslehre.
  • ► Wer über eine Berufslehre verfügt, riskiert 2,5 mal weniger, Sozialhilfe zu bezie­hen.
  • ► Mit einer Berufslehre wird der wirtschaftliche Strukturwandel besser bewältigt.
  • ► Mit Berufsbildung und Weiterbildung kann Karriere gemacht werden.

Änderungsvorschläge für die Sozialarbeit

Um Armut zu verhindern und zu bekämpfen, schlägt Strahm eine berufspraktische Ausbildung zur Integration in den Arbeitsmarkt vor. Kritik gilt dem bisherigen Selbst­verständnis der Sozialarbeit, bei der die finanzielle Unterstützung im Vordergrund steht. Den SozialarbeiterInnen wirft er vor, sie würden den Arbeitsmarkt und das Be­rufsbildungssystem nicht genü­gend kennen. Besser wäre es, mehr BerufsberaterIn­nen und LaufbahnberaterInnen anstelle von SozialarbeiterInnen auf den Sozialäm­tern einzusetzen oder die Ausbildung oder Weiterbildung der Sozialarbeiter auf Be­rufsbildungs- und Arbeitsmarktkenntnisse auszudehnen. Eine Möglichkeit bestünde sonst darin, private Sozialfirmen zum Zuge kommen zu lassen.

Grosse Hoffnung macht sich Strahm in Bezug auf die Interinstitutionelle Zusammen­arbeit (IIZ) von allen Leistungserbringern im Sozialwesen. Doch diese funktioniert sowohl auf Bun­des- als auch auf Kantonsebene nur schlecht. Nach Strahm fehlt oft die Führung auf oberster Ebene, es gibt zu viel Bürokratie. Die IIZ wäre jedoch Chef­sache, das heisst Aufgabe der BundesrätIn­nen und der RegierungsrätInnen. Auch mangelt es an Regeln zur Ko-Finanzierung im Case-Management.

Bei der Arbeitsmarktintegration erwähnt Strahm auch die Schwachstelle Wirtschaft. Im ersten Arbeitsmarkt gibt es keinerlei Pflichten der Arbeitgeberschaft zur Integra­tion von Arbeit­nehmerInnen. Nirgends wird die Rolle der Arbeitgeberschaft in diese Sache gesetzlich festgehalten. Auf der Suche nach finanziellen Anreizen zur Ar­beitsintegration schlägt Strahm unter Anderem neue SKOS-Finanzierungsregeln vor.

Die Ablösungsquoten von der Sozialhilfe sind regional sehr unterschiedlich. Bern mit 45% mit seinem Kompetenzzentrum Arbeit ist Spitzenreiter. Es folgt St. Gallen mit rund 43%. Dort wurde die Sozialhilfe an private Sozialfirmen ausgelagert. In Basel geschieht die Arbeitsvermittlung von Staates wegen. Die Ablösungsquote beträgt rund 32 %. Besonders tief ist die Quote in Luzern mit nur 18%

Auf der Suche nach effizienter Arbeitsvermittlung erwähnt Strahm auch das Modell „Passage“ in Winterthur. Von 390 arbeitsfähigen SozialhilfebezügerInnen verzichte­ten nach einem Aufgebot rund 100 Personen auf Arbeit und Sozialrente. Als Anreiz wurde zur Sozialrente ein Zuschlag von Fr. 300.- monatlich gewährt, 53 Personen bezogen nach der Absolvierung von „Passage“ keine Sozialhilfe mehr.

Härtere Gangart gefordert

Im Bereich der Migration schlägt Strahm vor, die Grundkompetenzen der Betroffenen zu standardisieren. Alle, die in der Schweiz bleiben wollen, müssen genügend Schreib-, Sprach- und Rechenkompetenz besitzen, sich in der Alltagsinformatik aus­kennen und über ein zivilrechtliches Grundwissen verfügen. Eine Integrationsverein­barung soll neu als Verpflichtung ins AusländerInnengesetz aufgenommen werden. Deswegen fordert Strahm die Unterstützung der vorgesehenen Revision des Aus­ländergesetzes, wie sie vom Bundesrat vorgeschlagen werde. Das Motto sei: För­dern und fordern.

Zum Schluss seines Referates widmete sich Strahm noch dem Thema des Sozial­hilfemissbrauches. Angebliche oder echte Missbrauchsfälle würden den Sozialge­danken und die Solidarität zerstören. Das Sozialsystem sei „zugeschnitten auf die arbeitswillige, integrierte Bevölkerung“, Mit dem Sozialhilfemissbrauch würde das Wertsystem: Sozialhilfe an unverschuldet Arme in Frage gestellt. Es gelte nun, die Missbräuche rigide zu be­kämpfen und das Vertrauen der Bevölkerung in das Sozial­system herzustellen.

Kritisches Echo bei den Fachleuten

In der kurzen anschliessenden Diskussion stellte ein Sozialarbeiter einer bernischen Gemeinde an den Referenten die Frage, wie denn in Arbeit integriert werden solle, wenn es nicht genügend Arbeit gibt. Strahm stellte fest, dass es nicht genügend Ar­beit für die Unqualifizierten gäbe, die Qualifizierten holten wir uns aus dem Ausland. Ein anderer Kritiker stellte lako­nisch fest, dass die Inter-Institutionelle Zusammenar­beit (IIZ) zwischen den LeistungserbringerInnen zu einem Kampfplatz der JuristInnen geworden ist. Alle LeistungserbringerInnen hätte heute dieselbe Vorgabe, nämlich möglichst viele Hilfesuchende abzuwimmeln. So hätten die LeistungserbringerInnen ihre Rechtsdienste aufgestockt. Diese führten nun gegen die anderen Leistungser­bringerInnen oft einen regelrechten Krieg.

(Quelle u.a.: PPP von Rudolf H. Strahm)

Zur Person: Rudolf H. Strahm, alt Nationalrat, ehemaliger Preisüberwacher, Präsi­dent Schweizerischer Verband für Weiterbildung SVEB.

Kommentar:

Nicht gebraucht, nicht gerufe­n

Paul Ignaz Vogel

Rudolf H. Strahm hat an der Delegiertenversammlung der Berner Konferenz für Sozial­hilfe, Kindes- und Erwachsenenschutz (BKSE) referiert, wie eine aktivierende Sozi­alpolitik auszusehen hätte. Sein Konzept besticht durch Einfachheit. Strahm lehnt sich unausge­sprochen an die Utopie der Vollbeschäftigung an. Arbeit ist alles und der Ar­beitslohn das einzige Einkommensmodell, das anzu­streben wäre. Vom bedingungslosen Grundeinkommen natürlich kein Wort. Dafür Akti­vierung der Menschen zur Arbeit – auch wenn diese fehlt. Ein Herrschaftsanspruch der Habenden wird sichtbar. Prävention als Ankündigung von Repression. Wird hier mit leeren Versprechungen für die Zukunft noch mehr Druck aufgebaut?

Strahm ist der plausiblen Überzeugung, dass heute auf dem sogenannten Arbeits­markt nur Gelernte gebraucht würden. Als Beweis führte er den Import von Fach­kräften aus dem Ausland an. Eine Nachfrage nach Gelernten bestünde nach wie vor. SchweizerInnen seien von Kindsbeinen an besser zu schulen, AusländerInnen mit Minimalanforderungen zu konfrontieren, damit sie hier bleiben dürfen.

Doch so einfach ist es eben nicht. Zwischen dem utopischen Bild einer aktivierenden Sozialpolitik und den Realitäten unserer Gesellschaft ganz unten, mit den politischen Mehrheitsver­hältnissen in der Schweiz, den bestehenden, immer re­pressiver wer­denden Gesetzen im Sozialen, dem Diktat der internationalen Finanzmärkte, die ge­rettet werden müssen durch Sparen als Politikersatz: Durch all das besteht ein gros­ser Graben, in welchen die Benachtei­lig­ten fallen. Es geht um fast eine Million real existierender Menschen in der Schweiz, die im Hier und Jetzt von einer gestaltenden Politik aus­ser Acht gelassen werden. Verachtung durch Verwal­tung. Menschen­rechte ade.

Was heisst es, zur Migration gezwungen worden zu sein? Oder un­gewolltes Opfer eines wegstrukturierten Arbeitsplatzes zu werden? Und was tun, wenn einst erlernte Berufe wegen des rasanten technologischen Wandels wäh­rend der eigenen Berufszeit verschwinden? Wenn jemand den technologischen und strukturbe­dingten Wandel in der Arbeitswelt am eigenen Leib erfahren muss? Und wegen der Dynamik der Entwicklung und der pausenlosen Veränderung der An­schluss an eine effiziente Umschulung und Weiterbildung verpasst wird? Wenn nicht nur der Wille des Gesetz­gebers fehlt, sondern auch die beste­henden Instru­mente versagen? Und die persönliche Kraft und die Ressourcen einmal aufgebraucht sind?

Strahm, ein ehrlicher Mensch, hat zwar in seinem Referat eingestanden, dass die Arbeitgeberschaft in kein Gesetz eingebunden und in keine Pflicht genommen wer­den kann. Womit sein Kon­zept in sich zusam­menbricht. Denn in seinen Über­legun­gen haben gerade die Menschen in Not, die den sozialen Abstieg in ihrer Vita hinneh­men mussten, keinen Platz. Sie dürften in­nerhalb ihres eigenen Le­benslaufes kaum mehr genügend Ausbildung oder/und Weiterbildung erfahren.

Wenn aber jeder politische Gestaltungswille fehlt, der Gedanke des sozialen Frie­dens in der Gesellschaft abhanden gekommen ist und die verheis­sene Ausbildung in utopische Ferne ge­rückt wird, bleibt nur noch die Wundversor­gung der Opfer im neo­liberalen Wirtschaftskrieg gegen die Bevölkerungen auf der ganzen Welt. Sprich: Ge­setzlich besser geregelte humane Be­dingungen zur Pflege der Einzelopfer, im Sinne eines Henri Dunant. Und es bleibt die soziale Frage.

Kommentar:

Wer treulich arbeitet

Oswald Sigg

Einleuchtend zunächst, was Rudolf Strahm zur Berufsbildung sagt. Die Wirtschaft braucht berufsgelernte Arbeitskräfte. AbsolventInnen einer Berufslehre sind weniger als andere von der Arbeitslosigkeit oder vom Armutsrisiko heimgesucht. Deshalb bezahlt die Wirtschaft diesen bis 1‘500 Franken mehr (monatlich!) als den Ungelernten. Mit einer Berufsbildung kann man aber auch viel besser Karriere machen und dann kriegt man monatlich erst noch mehr als die 1‘500 Franken, die man allein schon der Berufslehre wegen mehr erhalten hat. Auch wenn mittlerweilen selbst Daniel Lampart vom Schweizerischen Gewerkschaftsbund (SGB) öffentlich davon spricht, eine Lehre sei in der Schweiz leider auch keine Garantie mehr für einen Lohn, der zum leben ausreiche, muss man dennoch Strahms Erkenntnisse auf den Punkt bringen: wären nur alle Arbeitnehmenden mindestens berufslehregebildet, würden sie allesamt in den Arbeitsmarkt integriert und die öffentliche Sozialhilfe könnte glatt abgeschafft werden.

So taucht es wieder einmal auf, das Märchen von der Vollbeschäftigung und jenes vom Arbeitsmarkt. Mitten in der europäischen Realität, geprägt von 25 Millionen Lohnarbeitslosen. Da, wo eben gerade tagtäglich mit betriebswirtschaftlicher Effizienz Tausende von Arbeitsplätzen in der Substanz verunstaltet, global verschoben oder kurzerhand vernichtet werden. Im Hintergrund der Strahm‘schen Power Point-Präsentation wetterleuchtet aber auch das allzu simple Verständnis von der Arbeit als Lohnarbeit und dass der Mensch allein damit den Anspruch auf die Würde und die Erfüllung seines Lebens erwirbt. Die Arbeit zum redlichen Erwerb des Glücks auf Erden. Und es wäre auch die schematische Darstellung der Lohnarbeits-Ideologie zu optimieren: Arbeit = Lohn / mehr Arbeit = mehr Lohn / mehr Ausbildung = noch bessere Arbeit = noch mehr Lohn usw. Die Moral dieses Märchens: der Arbeitsmarkt ist eine Fiktion, die Vollbeschäftigung eine Halluzination. Aber was bedeutet eigentlich das Wort Arbeit?

Die Arbeit wird gemeinhin als zweckgerichtete körperliche und geistige Tätigkeit des Menschen bezeichnet. Noch im frühen Mittelalter wurde unter dem deutschen Begriff Arbeit vorwiegend Mühsal, Plage oder Anstrengung verstanden, in den altslawischen und russischen Sprachräumen war rabota (Arbeit) der Inbegriff für Knechtschaft und Sklaverei. Erst mit Martin Luther bekommt die Arbeit auch eine positive Bedeutung: „Wer treulich arbeitet, betet zwiefältig“. Das wäre dann die Formel: Arbeit = Gebet = Himmel. Über Jahrhunderte hinweg war und ist mit der Arbeit ein Zwang verbunden. „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“ – das mittelalterliche Sprichwort gilt heute mit der Lohnarbeit unverändert. Die Arbeit erschöpft sich aber gar nicht in der Lohnarbeit. Diese ist nur das Trinkgeld des Arbeitsmarkts. Die meiste, ja die grosse Arbeit wird unbezahlt geleistet, weil sie ein Prozess ist, der Mensch, Gesellschaft und Natur gestaltet und dauernd verändert.

Ich habe von einer Lesung in den sechziger Jahren im Zürcher Hechtplatztheater noch den greisen Ernst Bloch in Erinnerung, wie er die letzten Sätze aus seinem Prinzip Hoffnung vortrug:

„Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfasst und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“