Die Quasi-Entmachtung der Verfassungsrichter

Veröffentlicht in Europäische Union

Ungarns Parlament hat für eine Verfassungsreform gestimmt und damit de facto die Verfassungsrichter entmachtet. Sie dürfen sich nicht mehr auf frühere Urteile beziehen. Mit weitreichenden Folgen: Obdachlose können fürs Übernachten im Freien bestraft werden, Studenten müssen nach ihrem Studium im Land bleiben.

Von Stephan Ozsváth, ARD-Hörfunkstudio Wien

Das ungarische Parlament hat mit der Zweidrittelmehrheit der nationalkonservativen Regierung die Verfassung verändert. Es ist die vierte Verfassungsreform, und sie hat weitreichende Folgen.

"Diese liberale Welt, die auf Dogmen beruht, ist am Ende. Sie bricht überall zusammen", sagte Parlamentspräsident Lászó Kövér von der Regierungspartei Fidesz zur geistigen Grundhaltung der Regierung von Viktor Orbán. "Dieser Nachkriegs-Mythos, den sie bis zur Absurdität aufgebaut haben, fällt zusammen." Ungarn sei deshalb ein symbolischer Ort.  Denn hier habe die Zweidrittelmehrheit im Parlament eine ernsthafte Veränderung herbeiführen können. In jedem Bereich des Lebens.

De facto entmachtet die Regierung Orbán nun die Verfassungsrichter. Sie dürfen sich in ihrer Spruchpraxis nicht mehr auf frühere Urteile beziehen. So hatten die Verfassungsrichter Ende des Jahres die Kriminalisierung von Obdachlosen gekippt. Sie dürfen künftig bestraft werden, wenn sie im Freien nächtigen. Wahlwerbung in privaten Medien kann die Regierung unterbinden, ein Frontalangriff gegen die Opposition. Studenten müssen künftig in Ungarn arbeiten, nach Abschluss ihres Studiums, sonst gibt es kein Stipendium.

Protest auch im Ausland

Am Nachmittag demonstrierten Schüler und Studenten mit einer Sitzblockade vor dem Parlament in Budapest. "Jetzt dürfen wir nicht mehr auf Schulbänken sitzen, jetzt müssen wir demonstrieren", sagt eine von ihnen, Sarolta Kremmer.

Die meisten Neuregelungen waren von den Verfassungsrichtern zuvor gekippt worden. Jetzt wurden sie von der Regierung Orbán per Zweidrittelmehrheit mit Verfassungsrang versehen, das Verfassungsgericht muss zusehen.

Die Sozialisten blieben der Abstimmung fern. "Wir glauben, dass der Ministerpräsident mit der heutigen Entscheidung auch den letzten Anschein von Rechtsstaatlichkeit beseitigt", sagt Sozialisten-Chef Attila Mesterházy. "Diese Art von Macht ist nicht normale Machtausübung, sondern ein Zuviel an Macht. Wir können das getrost Parlamentsdiktatur nennen." Eine neue Willkürherrschaft sei in Ungarn entstanden, so Mesterházy. "Die unterscheidet sich nicht von früheren. Denn ein Mensch bestimmt despotisch die Gesetzgebung im Parlament, und er bestimmt die Politik – ohne jede Kontrolle."

Gegen die Verfassungsänderung regt sich Protest in Ungarn, aber auch im Ausland. Am Wochenende waren Tausende in Budapest zum Protestieren auf die Straße gegangen. Bundesaußenminister Westerwelle forderte die Einhaltung europäischer Grundwerte. "Wir sind in Europa eine Wertegemeinschaft", sagte er vor einem Treffen der EU-Außenminister. Das müsse sich auch nach innen in der Verfasstheit der Länder zeigen. Die Grünen appellierten an die Bundeskanzlerin, angesichts des Besuchs des ungarischen Staatspräsidenten Ader in Berlin nicht zu schweigen.

Quelle: tagesschau.de vom 12.3.2013