Positionspapier der Nationalen Armutskonferenz

Veröffentlicht in Allgemeines

Grundsicherung für Arbeitsuchende: Armutsverwaltung oder Armutsbekämpfung?

Grundsicherung für Arbeitsuchende: Armutsverwaltung oder Armutsbekämpfung?
Das vorliegende Thesenpapier gibt keine neuerliche detaillierte Bewertung der Sozialgesetzbücher II und XII ab, sondern beschreibt grundlegende Erwartungen zu den Themenfeldern Sicherung des Existenzminimums (I), Grundsicherung und Familienleben (II), Würde und Respekt im Leistungsbezug (III) sowie Umfeldbedingungen für eine funktionierende soziale Grundsicherung (IV), die die Nationale Armutskonferenz an die Ausgestaltung einer sozialen Grundsicherung richtet. Im fortlaufenden Text wird jeweils eine Schlüsselproblematik der heutigen Praxis beschrieben (1), eine lösungsorientierte Bewertung abgegeben (2) und auf mögliche Umsetzungswege und Fallstricke verwiesen (3).

I. Sicherung des Existenzminimums

1. Ansprüche auf existenzsichernde Leistungen?

Ordentliche Löhne her, Sanktionen gegen Erwerbslose weg
von Katja Kipping, DIE LINKE

Zur Niedriglohnstudie des Instituts für Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen

Zur Niedriglohnstudie des Instituts für Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen, nach der acht Millionen Menschen mit einem Niedriglohn von weniger als 9,15 Euro brutto pro Stunde auskommen müssen und die Zahl der Niedriglöhner zwischen 1995 und 2010 um mehr als 2,3 Millionen gestiegen ist, erklärt die stellvertretende Vorsitzende der Partei DIE LINKE, Katja Kipping:

Es muss nun in Deutschland endlich ein gesetzlicher Mindestlohn von zehn Euro her. Die Tarifparteien sind aufgerufen, Tarife unter dem Mindestlohn mindestens auf diesen anzuheben. Außerdem muss sofort Schluss sein mit dem Druck auf Erwerbslose, niedrig entlohnte Jobs annehmen und damit den Kolleginnen und Kollegen in den Betrieben in den Rücken fallen zu müssen. Die Sperrzeiten beim Arbeitslosengeld I und die Sanktionen bei Hartz IV gehören auch daher sofort abgeschafft.

Zur Pressemitteilung.

(1) In der öffentlichen Debatte wird immer wieder zwischen scheinbar „legitim“ und „illegitim“ Armen bzw. Unterstützungsbedürftigen unterschieden. Einige politische Akteure unterscheiden zwischen Erwerbslosen nach längerer Beschäftigung und nach ihrer Sicht zu deklassierenden Erwerbslosen, die nie den Einstieg in den Arbeitsmarkt gefunden haben. Für letztere werden die Ansprüche mit Zuschreibungen wie „Faulheit“ oder „Dekadenz“ in Frage gestellt, während der tatsächliche Hilfe- und Integrationsbedarf oft besonders hoch ist. Flüchtlinge werden im Asylbewerberleistungsgesetz auf weitaus geringere Leistungen als in der Grundsicherung verwiesen.
Gleichzeitig nehmen „Verdeckt Arme“ aufgrund der damit verbundenen Diskriminierung oder aus Unkenntnis ihnen zustehende Leistungen nicht in Anspruch oder fallen trotz Bedürftigkeit aufgrund einer besonderen Lebenssituation aus dem Leistungsbezug heraus. Die Inanspruchnahme von Sozialleistungen aufgrund von Rechtsansprüchen ist in der sozialstaatlichen Verfassung verankert. Die Legitimität der Inanspruchnahme sollte eine gesellschaftliche Selbstverständlichkeit sein. Während Sanktionen und Anrechnungsregelungen Hilfebedürftige aus dem Leistungssystem drängen, sind auf der anderen Seite die Anreizsysteme nicht ausreichend und es fehlt eine Konzentration auf passgenaue Integrationsleistungen.
Massive Einsparungen, die in den letzten Jahren im Sozialetat durchgesetzt wurden, belasten besonders die Personen im Leistungsbezug des SGB II. Mit dem Sparpaket der jetzigen Bundesregierung wurden nun die Elterngeldleistungen für Menschen gestrichen, die vor der Geburt ohne Arbeit waren, es werden keine Rentenbeiträge mehr gezahlt und Leistungsberechtigte erhalten nach dem Arbeitslosengeld keinen befristeten Zuschlag mehr. Darüber hinaus wurden die Regelbedarfe nicht bedarfsgerecht angepasst.

(2) Das Recht auf Existenzsicherung besteht ohne Abstriche für alle Menschen und ist durch das Grundgesetz festgeschrieben. Durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9. Februar 2010 wurde dieses Grundrecht auf Gewährung des soziokulturellen Existenzminimums eindeutig gestärkt. Schon die Einführung der bundeseinheitlichen Sozialhilfe mit Inkrafttreten des Bundessozialhilfegesetzes (BSHG) 1962, die die Reichsfürsorgeverordnung ablöste, setzte eine einheitliche staatliche Hilfe an die Stelle einer ungleichmäßigen Fürsorgepraxis. Die Gewährung des soziokulturellen Existenzminimums ist, so belegt das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes, eine staatliche Pflicht, die sich aus der Menschenwürde ergibt und keine Gnade, die für ausgewählte Personenkreise mehr und für andere Personenkreise weniger gilt. Eine effektive und umfassende Einlösung dieses Anspruches muss Maßstab für Ausgestaltung von Sozialleistungen sein. Sozialpolitik muss sich von Armut Bedrohten engagiert annehmen, statt primär Sanktionen und möglichen Missbrauch im Blick zu haben, während ein nicht unerheblicher Teil der Leistungsberechtigten seine Rechte gar nicht geltend macht.
Die Einsparungen müssen im Zusammenhang mit der Debatte um die Sicherung eines menschenwürdigen und bedarfsdeckenden Existenzminimums gesehen werden. Zwar muss Sozialpolitik nachhaltig haushalterisch umgesetzt werden, darf aber nicht einseitig von Haushaltspolitik determiniert sein. Da ein verfassungsgemäßer Rechtsanspruch auf Grundsicherungsleistungen besteht, verbieten sich die derzeitigen Einsparungen aus rein finanzpolitischen Erwägungen.

(3) Die soziale Mindestsicherung muss für alle in Deutschland Lebenden gelten. Weder ist eine Schlechterbehandlung bestimmter Personengruppen wie im Asylbewerberleistungsgesetz hinzunehmen, noch eine Ausgrenzung von Leistungsberechtigten aus dem Leistungsbezug, indem Leistungsberechtigte durch verschärfte Regelungen etwa bei Sanktionen oder Einkommensanrechnung aus dem Leistungsbezug verdrängt werden. In diesem Zusammenhang muss auch die Kommunikation von Politik und die Berichterstattung der Medien über Armut und Leistungsbeziehende immer wieder thematisiert und kritisiert werden. Wenn eine fehlende Akzeptanz in der Gesellschaft die Inanspruchnahme von Rechtsansprüchen in Frage stellt, muss die Herstellung dieser Akzeptanz im Zentrum der sozialpolitischen Bemühungen stehen. Dabei kann die Armuts- und Reichtumsberichterstattung, die fortgeführt werden muss, helfen.
Dort ist insbesondere darauf zu achten, dass die Probleme und Nöte von Menschen dargestellt werden, die lange oder schon immer im Leistungsbezug sind. Wichtig ist, regelmäßig zu erheben, in welchem Maße verdeckte Armut besteht und Maßnahmen und Mittel gefunden werden, diese Menschen über ihren Grundsicherungsanspruch zu informieren. Die Frage, ob Menschen, die lange gearbeitet haben, höhere Leistungen bekommen sollen (im Sinne einer Versicherung) ist davon getrennt zu betrachten und kann nicht im Rahmen der Gestaltung des Grundsicherungssystems gelöst werden. Sie wird ausschließlich im Leistungsbereich des SGB III beantwortet. Die Anerkennung von vorheriger Berufstätigkeit, die der befristete Zuschlag gab, wurde mit dem Jahreswechsel 2010/2011 gestrichen. Mit der Einführung der SGB II und XII war bereits die Arbeitslosenhilfe abgeschafft worden.

2. Soziale Integration als Ziel der Grundsicherung für Arbeitsuchende

(1) Die Grundsicherung für Arbeitsuchende in ihrer heutigen Ausgestaltung konzentriert sich stark auf die Vermittlung in Arbeit. Durch Sanktionsregelungen wird dieses Ziel untermauert. Dabei kann ein erhöhter Druck auf Erwerbslose nicht die drängende Problematik lösen, dass in vielen Teilen Deutschlands schlicht nicht genug Arbeitsplätze für alle Arbeitsuchenden zur Verfügung stehen. Ebenso wird außer Acht gelassen, dass es einen großen Personenkreis im Leistungsbezug des SGB II gibt, der sozial nicht mehr voll in die Gesellschaft integriert ist und der in diesem Bereich Hilfe braucht, bevor überhaupt an die Aufnahme einer regulären Arbeit gedacht werden kann. Die Grundsicherung muss durch Bereitstellung einer sozialen Integrations-Infrastruktur wie Beratung, Unterstützung, Ermutigung ausgebaut und ergänzt werden. Insbesondere bei psychischen Problemen oder Lebenslagen, die zu einer Beeinträchtigung von grundlegenden sozialen Integrationsmöglichkeiten und des sozialen Umfelds geführt haben, fehlen zur Unterstützung der Leistungsberechtigten durch die AnsprechpartnerInnen im Jobcenter oft Kompetenz, Zeitressourcen und Finanzmittel, um eine angemessene Förderung anzubieten und zu gewährleisten.
(2) Ein Abschied von der sozialen Integrationsperspektive ist nicht hinnehmbar. Die eigenständige Sicherung des Lebensunterhalts muss Ziel der Hilfesysteme bleiben. Dabei dürfen aber sozial-integrative Aspekte, die möglicherweise vor einer Eingliederung in den Arbeitsmarkt notwendig sind, nicht vernachlässigt werden. Die soziale Integration muss als gleichrangiges Ziel im SGB II genannt werden. Für Personenkreise, die Bedarf an Hilfe zur sozialen Integration haben, muss diese gewährleistet werden und gegebenenfalls für einen gewissen Zeitraum vorrangig zur Arbeitsvermittlung bleiben. In der Praxis wurde dieser Vorrang bisher nur wenig angewandt.
(3) Ziele wie soziale Stabilisierung und Teilhabe müssen in der Grundsicherung verbindlich festgeschrieben sein und evaluiert werden. Sie müssen gleichrangig zur Arbeitsvermittlung sein.
Bei der Arbeitsvermittlung muss sichergestellt werden, dass tarifliche und arbeitsrechtliche Standards eingehalten werden und sozialversicherungspflichtige Beschäftigung gefördert wird. Die Leistungsberechtigten sollen in die Lage versetzt werden, ihre Bedarfe zukünftig selbst decken zu können. Andernfalls bietet die Vermittlung auf einen Arbeitsplatz keinen Schutz vor Prekarisierung und Desintegration.
Das Personal muss geschult werden, um einen Blick für spezifische Probleme zu bekommen und die entsprechenden Hilfeangebote zu kennen. Entsprechend ausgestaltete bedarfsgerechte Hilfen müssen Kriterien wie „mehr Teilhabe, Eigenständigkeit und Selbstbestimmung“ genügen.
Aus dem alten Sozialhilferecht (BSHG) liegen umfangreiche Erfahrungen mit der Ausformulierung und Evaluation dieser Ziele vor. Es muss zum Armuts- und Reichtumsbericht eine ergänzende nationale Sozialintegrations-Berichterstattung eingeführt werden, die auch evaluiert, ob die sozialpolitischen Integrationsziele, die mehr sind als die Verbesserung von Arbeitsmarktzahlen, bundesweit eingelöst werden. Ein engagiertes Umsteuern der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik in diesem Sinne bleibt dringend geboten. Die Armuts- und Reichtumsberichterstattung soll durch eine unabhängige ExpertInnenkommission beraten und begleitet werden.

3. Das Zusammenspiel von Geldleistungen, Sachleistungen, Eingliederungsleistungen, persönlicher Beratung und weiteren Dienstleistungen

(1) Derzeit stehen sowohl die Höhe der materiellen Leistung als auch mit dem sogenannten Bildungs- und Teilhabepaket die Ausgestaltung immaterieller Leistungen in der politischen Diskussion. Darüber hinaus wird eine Reform der arbeitsmarktpolitischen Instrumente angegangen. Die Ausgestaltung aller drei Reformbereiche ist durch Einsparvorgaben determiniert und nicht durch Überlegungen im Sinne von Bedarfsgerechtigkeit.
(2) Nur materielle Leistungen lassen Hilfebedürftigen den Spielraum, eigenverantwortlich und selbstbestimmt ihr Leben zu führen. Materielle Hilfen zur Deckung des Lebensunterhalts greifen aber oft zu kurz, wenn es um die Sicherung von Zukunftsperspektiven der Hilfebedürftigen und / oder ihrer Familie geht, da mit der materiellen Notlage häufig weitere Probleme verbunden sind. Auch eine reine Fokussierung auf die Arbeitsmarktintegration ist nicht hilfreich. Die Grundsicherung muss zum Leben reichen und es müssen Elemente hinzukommen, die Selbstbestimmung und Eigenverantwortung unterstützen und würdigen. Ebenso dürfen Geld- und Infrastrukturleistungen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Ohne nachhaltige Sicherung und den Ausbau der sozialen Infrastruktur kann die soziale Integration der Leistungsberechtigten nicht hinreichend gewährleistet werden. Gleichfalls dürfen Dienstleistungen nicht als Argument für nicht-bedarfsdeckende Regelsätze herhalten.
(3) Das soziokulturelle Existenzminimum muss grundsätzlich durch eine Geldleistung gedeckt werden. Dabei müssen die tatsächlichen Bedarfe Maßstab sein. Die materiellen Hilfen müssen bedarfsgerecht ausgestaltet sein und dürfen nicht rein finanzpolitischen Vorstellungen unterworfen sein. Wenn immaterielle Hilfen angeboten werden, muss auf eine stigmatisierungsfreie Ausgestaltung geachtet werden.

4. Kosten der Unterkunft und Heizung

(1) Wohnraum in angemessener Größe und baulichem Zustand sowie mit hinreichender Verkehrsanbindung und die ausreichende Versorgung mit Haushaltsstrom, Warmwasser und Heizenergie sind Bestandteil des soziokulturellen Existenzminimums und damit ein grundlegendes Recht aller Menschen in unserer Gesellschaft. Die angemessene Wohnraumversorgung ist Voraussetzung für ein menschenwürdiges Leben und Grundlage für soziale Integration. Ebenso brauchen Kinder einen Platz, an dem sie in Ruhe lernen und sich entfalten können.
In Quartieren, in denen konzentriert Menschen wohnen, die von Sozialhilfe oder Arbeitslosengeld II leben, können sich Probleme potenzieren. Entsprechende Probleme in benachteiligten Quartieren sollten zu früheren Zeiten über sozialen Wohnungsbau gelöst werden, der nun in den Hintergrund geraten ist.
In Deutschland leben 250.000 Menschen ohne Wohnung. Weitere 120.000 Menschen sind unmittelbar von Wohnungsnot bedroht.
(2) Neben finanzieller Angemessenheit des Wohnraumes müssen auch soziale Integrationsaspekte bei der Förderung von Wohnen eine Rolle spielen. Die Entstehung oder Verfestigung von benachteiligten Quartieren ist zu vermeiden. Um bezahlbaren Wohnraum zu sichern, reichen Mietspiegel nicht aus. Sie können die Verdrängung von Menschen mit geringeren Einkommen aus bestimmten Wohnlagen nicht verhindern.
Eine aktive Wohnungspolitik entwickelt moderne Konzepte von sozialer Wohnungspolitik und schafft die Verpflichtung, in den Kommunen bezahlbaren Wohnraum zur Verfügung zu stellen, an den dabei anfallenden tatsächlichen Kosten den Bund angemessen zu beteiligen und gewerbliche Vermieter für die Entwicklung sozial ausgewogener Wohnquartiere in die Pflicht zu nehmen. Bei der Erstattung der Kosten der Unterkunft sind zudem individuelle Aspekte zu berücksichtigen.
(3) Gerade auch die Bereitstellung von Wohnraum für Menschen, die auf dem freien Wohnungsmarkt keine Wohnung finden, muss nach den oben beschriebenen Kriterien gesichert sein. Anstelle der Pauschalierung von Unterkunftskosten richtet sich Einzelfallorientierung auch nach den örtlichen Gegebenheiten. Bei Einhaltung von Angemessenheitsgrenzen bei den Mietgesamtkosten ist es nicht sinnvoll, Höchst-Quadratmeterwerte für Wohnung und Heizung fest zu legen. Einzelfallbezogen müssen Abweichungen von Kostengrenzen oder eine besondere Umzugsförderung möglich sein, wenn so nachweislich Integrationsperspektiven verbessert werden. Hierzu sind auch lebenslagenorientierte Kriterien zu entwickeln wie z.B. Familien- und mögliche Betreuungssituation bei Kindererziehung wie Pflege von Angehörigen. Wenn es im Einzelfall notwendig ist, um die sozialen Integrationsperspektiven deutlich zu verbessern, sollte eine weitere Aufstockung des Mietzuschusses als individueller Zusatzbedarf möglich sein.

5. Existenzsicherung und Gesundheit

(1) Zu einer Grundsicherung gehört das Recht auf freie Gesundheitsversorgung, d.h. auf freien Zugang zu einer adäquaten medizinischen Diagnostik, Therapie und Nachsorge. Dem stehen Zuzahlungen, Zusatzbeiträge und ständig sich erhöhende finanzielle Eigenleistungen entgegen.
(2) Das für die Gesundheitsversorgung notwendige Geld kann von sozialen Transferleistungen nicht angespart werden. Dies trifft insbesondere für Zahnbehandlungen, Brillenanschaffungen, physiotherapeutische Maßnahmen usw. zu.
(3) Selbstbestimmte Realisierung von Eigenverantwortung im Bereich Gesundheitsförderung und Prävention ist im Rahmen der zur Verfügung stehenden Ressourcen für Grundsicherungsempfänger nur stark eingeschränkt, oft nicht, möglich.
(4) Gesundheitskosten, im Sinne einer Partizipationsmöglichkeit von Versorgungsangeboten und selbstbestimmter Gesundheitsförderung sowie Prävention, müssen bei der Berechnung der Grundsicherung berücksichtigt werden. Dies ist ein wesentlicher Aspekt für die Möglichkeit gesellschaftlicher Teilhabe und die Überwindung von Ausgrenzung, sie dient somit auch der Integration.

II. Grundsicherung und Familienleben

1. Bedarfsgemeinschaften und Familien

(1) Im gegebenen Konstrukt der Bedarfsgemeinschaft ist persönliche Autonomie nicht gewährleistet. Ebenso werden Unterhaltspflichten, die nicht bestehen – zum Beispiel bei Kindern von PartnerInnen in nicht-ehelichen Gemeinschaften – konstruiert. Das Elterngeld von Eltern, die vor der Geburt kein Einkommen hatten, wird seit 2011 in voller Höhe auf ihr Arbeitslosengeld II angerechnet.Der familiäre Zusammenhang oder auch das Zusammenleben haben Einfluss auf individuelle Bedarfslagen, aber die Bedarfsgemeinschaft darf keine individuelle Bedarfserhebung ersetzen. Durch die Anrechnung des Partnereinkommens bei der Feststellung der Hilfebedürftigkeit hat der arbeitslose Partner / die arbeitslose Partnerin oft keine Ansprüche auf monetäre Grundsicherungsleistungen. Damit wird in der Praxis aber auch der Anspruch auf eigenständige Integrationsleistungen in der Regel nicht umgesetzt. Dies betrifft in besonderer Weise Frauen Unterhaltsannahmen dürfen nur dann auf den Grundsicherungsanspruch angerechnet werden, wenn ihnen (auch außerhalb des Leistungsbezugs) rechtliche Unterhaltsansprüche gegenüber stehen, die durch tatsächliche Unterhaltszahlungen eingelöst werden. Steuerliche Kompensationsmodelle wie der Familienlastenausgleich, das Kindergeld oder das Ehegattensplitting sind dabei angemessen zu berücksichtigen und ggf. anzupassen. So bekommen besserverdienende Eltern mehr Geld über die Kinderfreibeträge, als Normalverdiener im Kindergeldbezug. Bei Hartz IV-Empfängern wird das Kindergeld dagegen voll auf die Regelleistungen angerechnet - etwaige Erhöhungen kommen nicht bei den Kindern an.
(3) Bedarfsgemeinschaften als reine Verrechnungsgemeinschaft machen sozialpolitisch wenig Sinn. Nötig ist ein systemischer Ansatz familienbezogener Hilfen, der die verschiedenen Ansätze für soziale Integrationsbemühungen wie etwa Hilfen aus den SGB II, V, VII und XII vernetzt. So entstünden in enger Kooperation mit dem SGB VIII echte Hilfen aus einer Hand für Familien, die den sozialen Bedarfen von Kindern und Familien gerecht werden.

2. Umgang mit Unter-25-jährigen

(1) Eine freie Persönlichkeitsentwicklung und die Überwindung von einem generationsübergreifendem familiären Sozialleistungsbezug wird erschwert, wenn bis zum Alter von 25 Jahren faktisch eine Pflicht zum gemeinsamen Wohnen besteht, von der nur sehr selten Abweichungen im Sinne „schwerwiegender sozialer Gründe“ akzeptiert werden. Dies und schärfere Sanktionen vermindern die Kooperationsbereitschaft der Betroffenen gegenüber Hilfeangeboten. Wohnungslosigkeit wird in dieser Altersgruppe stark erhöht, Möglichkeiten, sich in einer eigenen Partnerschaft erfahren zu können, werden erschwert.
(2) Selbstständigkeit auch im Wohnen ist Voraussetzung für soziale Integration und Persönlichkeitsentwicklung. Der Schritt in eine eigene Wohnung sollte als Integrationsperspektive ausgestaltet werden. Bei einer grundlegenden Überarbeitung des Sanktionsinstrumentariums sind in jedem Fall die verschärften Sanktionen für unter-25-jährige zu streichen, aber besondere Hilfen vorzusehen.
(3) Gerade bei den Jugendlichen und jungen Erwachsenen besteht oft noch Bedarf an Unterstützung zur Persönlichkeitsentwicklung. Der Fokus des SGB II liegt jedoch auf der Integration in Erwerbsarbeit. Das Zusammenspiel von Hilfen nach dem SGB VIII und dem SGB II gestaltet sich häufig problematisch. Konzepte für einen besonderen Umgang mit dieser Altersgruppe und ihren besonderen Bedarfe sehen vor, auf ihre spezifische Lebenslage gezielt einzugehen. Diese sind vermehrt umzusetzen.

3. Bildungs- und Teilhabeleistungen für Kinder und Jugendliche

(1) Ein Bildungs- und Teilhabepaket allein mit Zuschüssen im Rahmen der Grundsicherung und angrenzender Sozialleistungssysteme kann keine umfassende Integrationsperspektive verwirklichen und birgt Gefahren der Stigmatisierung. Auch fehlen entsprechende Beträge für begleitende Eltern oder damit verbundene Mobilitätskosten.
(2) Eine bessere Förderung von Bildung und Teilhabe ist wichtig. Dies setzt aber eine umfassende und flächendeckende Infrastruktur der Hilfe voraus, die über den engeren Kreis von Leistungsberechtigten für Sozialleistungen hinausgeht. Eine eigene Infrastruktur nur für diese kann auch nur in einem engen Rahmen finanziert werden. Die Kommunen brauchen gesicherte Einnahmen, um eine entsprechende soziale und familienbezogene Infrastruktur im Zusammenspiel mit freien Trägern anbieten und sichern zu können.
(3) Der Ansatz, Leistungen direkt bei den Kindern ankommen lassen zu wollen, wirkt diskriminierend, wenn er sich hauptsächlich auf Leistungsberechtigte im SGB II und XII bezieht. Erziehungsprobleme gibt es in allen gesellschaftlichen Schichten und Einkommenslagen. Wenn die Begründung für die Einführung von Bildungs- und Teilhabeleistungen wirklich pädagogische Probleme wären, müsste eine Lösung für alle Familien gefunden werden. Die soziale Infrastruktur muss ausgebaut werden und für Familien besser zugänglich sein. Beim Bildungs- und Teilhabepaket wirkt die besondere Antragserfordernis gerade auf die Eltern abschreckend, die schon bisher wenig Bildungs- und Teilhabeleistungen in Anspruch nehmen.

III. Würde und Respekt im Leistungsbezug

1. Armutsverwaltung und Betreuung

(1) Bürokratisches Verwaltungshandeln, nicht Motivation und Vertrauen prägen derzeit die praktische Betreuung von Leistungsberechtigten. Die ist der sozialen Integration und auch der Vermittlung in Arbeit abträglich. Die Arbeitsorganisation der Jobcenter lässt auch den Betreuenden wenig Raum, ihre Kompetenzen zu entwickeln und in eine fallbezogene gezielte Unterstützung einzubringen. Unfreundlicher und respektloser Umgang, Fehlen fester Ansprechpartner und unverständliche Bescheide sind Ausdruck solcher Versäumnisse.
(2) Eine individuelle Einzelfallbetreuung ist für alle Betroffenen zu gewährleisten und muss als Unterstützung, nicht bürokratische Kontrolle ausgestaltet werden. Leistungsgewährung und Integrationsberatung müssen sich positiv ergänzen, persönliche Ansprechpartner eine vertrauensvolle Zusammenarbeit befördern. Die eigenen Entscheidungs- und Handlungskompetenzen der Leistungsberechtigten wie der Betreuenden sind in der Organisation der Jobcenter gleichermaßen zu achten und zu fördern. Die Betreuungsschlüssel müssen so angesetzt sein, dass eine einzelfallbezogene Hilfe und die Beachtung sozial-integrativer Aspekte gewährleistet werden können.
(3) Für die Betreuung der Leistungsberechtigten ist ein klares Qualifikations- und Arbeitsprofil geboten. Weitere Stichworte sind Vernetzung mit Selbsthilfe, klare Zuständigkeiten, feste Ansprechpartner, erleichterter Zugang, kein Abwimmeln von Betroffenen und verständliche Bescheide. Echte Hilfen aus einer Hand sind mehr als nur Hilfen unter einem Dach.

2. Anreize oder Sanktionen

(1) Das heutige System wird stark von Sanktionierungen bestimmt. Leistungsberechtigte können teilweise die Gründe für Kürzungen nicht nachvollziehen, entweder weil das System zu kompliziert ist oder weil sie sich in Lebenslagen befinden, in denen ihnen die Befolgung von Regeln unmöglich ist (psychisch Kranke, Suchtkranke, Wohnungslose, etc.). Sanktionen können in ihrer jetzigen Ausgestaltung dazu führen, dass die Menschen unterhalb des soziokulturellen Existenzminimums leben müssen und sind zur Zielerreichung der sozialen Integration kontraproduktiv.
Sanktionen wirken bereits im Vorfeld und führen bei vielen Leistungsberechtigten dazu, dass Ansprüche aus Angst vor Gängelung nicht geltend gemacht werden. Dadurch fallen sie als „Verlorene Arme“ aus allen Hilfesystemen heraus und sind so für soziale Integrationsbemühungen auch nicht mehr erreichbar.
(2) Wohnen, Kleidung, Nahrung und ein Mindestmaß an sozialer und kultureller Teilhabe sind Rechte und müssen nicht „verdient“ werden. Leider stehen Kontrolle und Arbeitsaufnahme im Vordergrund der Grundsicherungsleistung, nicht Ermutigung und Verwirklichung der Potentiale von Hilfesuchenden. Motivationsförderung muss Ziel der Ansprechpartner sein und zu ihrem Handwerkszeug gehören. Das heißt: Anreize schaffen, persönlich und finanziell.
(3) Sanktionierungen im Bereich Wohnen wie Deckung von Grundbedarfen darf es nicht geben. Dagegen können Anreize eigenes Engagement zur Verbesserung der eigenen Situation wie gesellschaftliches Engagement befördern.
Bei der Ausgestaltung der Anreize muss der Passiv-Aktiv-Transfer möglich werden, d.h. ein Leistungsanspruch kann in Maßnahmen ergänzt werden, der Leistungsanspruch wird in die Förderung mit eingebracht.
Die integrative Ausrichtung der Grundsicherung muss in den Fokus. Kontrollen und Sanktionen wirken auf viele Leistungsberechtigte abschreckend, die ihre gesetzlichen und durch die Verfassung geschützten Rechte auch tatsächlich in Anspruch zu nehmen.

3. Armutsbekämpfung und Armutslinderung

(1) Grundsicherung darf nicht primär Alimentierung heißen, die dann noch durch freiwillige Angebote wie die der Tafeln ergänzt wird, aber keinen Ausweg aus der Armut weist.
(2) Der Verweis auf Tafeln und weitere bürgerschaftliche Angebote ist ein Armutszeugnis für den Sozialstaat, wenn dafür die Regelleistungen vorenthalten, abgebaut oder nicht korrekt angepasst werden.
(3) Privates und kirchliches Engagement sowie die Angebote der Freien Wohlfahrtspflege sind einerseits „Katastrophenhilfe“, andererseits Integrationshilfe aus sozialer Verantwortung. Sie können und dürfen aber nicht die Errungenschaften des Sozialstaates ersetzen, die in klar definierten individuellen Rechtsansprüchen bestehen.

4. Förderung von Eigenengagement und sozialer Integration

(1) Bisher ist die Grundsicherung für soziale Integrationsfortschritte wie für gesellschaftliches Engagement gleichermaßen blind.
(2) Die Grundsicherung soll die Bürgerinnen und Bürger bei der Bewältigung ihres Alltags unterstützen und eigenständiges politisches und gesellschaftliches Engagement ermöglichen und fördern.
(3) Die Grundsicherung darf nicht von der Ableistung gesellschaftlichen Engagements im Sinne von „Bürgerarbeit +“ oder anderen Vorleistungen abhängig gemacht werden und zu noch stärkerer Sozialkontrolle führen. In den Jobcentern sollten Betroffenenvertretungen eingerichtet werden, die entsprechende Integrationsbemühungen und das Verwaltungshandeln begleiten. BSHG § 114 sah „sozial erfahrene Personen“ / Betroffene als Bürgerdeputierte vor.
Eine Vergabe zusätzlicher Fördermittel für Selbsthilfeinitiativen und deren Beratungsarbeit könnte über gewählte Betroffenenvertretungen erfolgen. Ebenso sollten Räume und Infrastruktur zur Verfügung gestellt werden. Ehrenamtliche Selbstorganisation sollte im Rahmen der Grundsicherung analog zu Bestimmungen im Arbeitsrecht über freigestellte Betriebsräte als sinnvolle Beschäftigung während des Leistungsbezuges anerkannt werden.

IV. Umfeldbedingungen für eine funktionierende soziale Grundsicherung

Eine gute und zielführende Grundsicherung kann nicht aus sich heraus funktionieren, sondern braucht funktionierende Schnittstellen zu einer gesicherten sozialen Infrastruktur mit Bausteinen wie:
- Beratungsdienstleistungen,
- erreichbare auskömmliche Arbeit,
- sozialer Wohnungsmarkt,
- kostenloser Zugang zum Gesundheitssystem
- und integrationsorientierte Bildungs- und Teilhabeangebote für Kinder, Jugendliche und Erwachsene.
Dies setzt voraus:
- geklärte finanzielle Rahmenbedingungen für Kommunen;
- eine gesicherte kommunale soziale Infrastruktur
- und eine Orientierung auf gesellschaftliche Partizipation und soziale wie kulturelle Teilhabe, die auf diese Infrastruktur aufbauen kann.
Die soziale Grundsicherung funktioniert nicht als System von Druck und Gängelung,
sondern durch Kommunikation mit und Mitwirkung der Leistungsberechtigten.