Kurzbericht zum 2. Interdisziplinären Tafelsymposium "Tafeln und die neue soziale Frage"

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Konstruktiver Dialog in Esslingen

Auf Einladung der Forschungsgruppe ‚Tafeln’ trafen sich am 29. und 30. März VertreterInnen von Verbänden, Tafeln und Armutsinitiativen sowie zum Thema forschende WissenschaftlerInnen verschiedener Hochschulen und Universitäten zum 2. Interdisziplinären Tafelsymposium. Es fand diesmal an der Hochschule Esslingen am Neckar statt. Zum Leitthema "Tafeln und die neue soziale Frage" gab es zahlreiche Vorträge und Inputs, zudem bot sich am Rande der Veranstaltung die Gelegenheit zur Vernetzung.

Nach den Grußworten des Prorektors Prof. Dr. Manfred Stilz und der Dekanin der Fakultät, Prof. Dr. Astrid Elsbernd, stellten die Gastgeber Prof. Dr. Katja Maar und Prof. Dr. Stefan Selke die Forschungsgruppe und das bis Juni 2013 laufende Forschungsprojekt Tafel-Monitor vor. Mit einem Kaleidoskop verschiedenster Statements aus dem Bereich der Tafel-Wissenschaft und -Praxis stimmte Professor Selke schließlich auf die Thematik des Symposiums ein. Mittlerweile zirkulieren zentrale, aus der Tafelforschung bekannte, Argumentationsfiguren in journalistischen Darstellungen über Tafeln oder öffentlichen Statements selbst von Tafelbetreibern. Selke betonte dabei, dass eine kritische Würdigung der Tafeln und damit die Begleitforschung zu Tafeln mittlerweile in institutionalisierter Form erfolge. Die Tafelforschung habe die Aufgabe, einer moralischen Unempfindlichkeit entgegen zu arbeiten und über Tatsachen, auch über unbequeme, aufzuklären. Mit dem Tafelsymposium, so Selke abschließend, sei die Hoffnung verbunden, die oftmals beklagte Differenz zwischen Wissenschaft und Praxis aufzulösen und in eine Interferenz umzuwandeln. Die Rolle der Wissenschaft bestehe dabei nicht in der Bestätigung bestehender Verhältnisse, sondern im Einmischen in notwendige gesellschaftliche Debatten.

Tafeln und (Sozial-) Ethik

Nach der Einleitung begann der erste thematische Block mit einem Vortrag von Dr. Alexander Dietz, Privatdozent an der Universität Heidelberg und Referent für Sozialpolitik beim Diakonischen Werk Hessen-Nassau. Aus theologisch-ethischer Sicht sieht er die Tafelarbeit trotz ihrer Ambivalenzen auch als Chance für die Kirchengemeinden, neue Perspektiven auf die soziale Wirklichkeit zu erlangen. Die weitere Institutionalisierung und Professionalisierung der Tafeln hält er angesichts eines Mangels an Alternativen für eine Gewissheit, im Hinblick auf die Kritik an Tafeln betonte er, es sei die Aufgabe der Politik und nicht der Tafeln, die Tafelarbeit überflüssig werden zu lassen. Die Aufgabe der Tafeln sei es vielmehr durch ein verbessertes Qualitätsmanagement die problematischen Aspekte der Tafelpraxis zu minimieren und im Sinne der Sozialraumorientierung die Tafeln zu „Motoren der Gemeinwesenentwicklung“ zu machen.

Dr. Franz Segbers, außerplanmäßiger Professor für Ethik an der Universität Marburg und Ethik-Referent beim Diakonischen Werk Hessen-Nassau, stellte in seinem Vortrag die sozialen Menschenrechte, zu deren Einhaltung Deutschland als Unterzeichner des UN-Sozialpakts verpflichtet ist, als klare inhaltliche Definition der Menschenwürde in den Vordergrund. Der Wirtschafts- und Sozialrat der UNO hat die Verletzung sozialer Menschenrechte in Deutschland im Mai 2011 scharf kritisiert, unter anderem deswegen, weilmit den für die Berechnung des Regelsatzes angewandten Methoden kein angemessener Lebensstandard garantiert werde und insbesondere die soziale Sicherheit von Kindern nicht gewährleistet sei. Tafeln seien ein Symbol der Postdemokratisierung des Sozialstaats, in der die rechtsbasierte Armutsbekämpfung durch private Wohltätigkeit ausgehöhlt wird. Die Bekämpfung von Armut sei aus menschenrechtlicher Sicht jedoch eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und kein individuelles Hilfeproblem, so Segbers. Die Hilfspflicht der Zivilgesellschaft bestünde daher nicht in der Verteilung von Lebensmitteln, sondern in der Hinwirkung auf eine staatliche Ordnung, die die ausreichende Versorgung aller Bürger garantiert.



Ausgrenzungserfahrungen im Tafelkontext

Am Nachmittag stellte Dr. Stephan Lorenz von der Universität Jena im Rahmen seines Vortrags "Veränderte Engagementformen im Kontext der Tafelarbeit" Forschungsergebnisse aus seinem Buch "Tafeln im flexiblen Überfluss. Ambivalenzen sozialen und ökologischen Engagements" vor. Er machte deutlich, wie die Arbeit der Tafeln aus der Perspektive einer Überflussgesellschaft zu deuten ist, in der sich gesellschaftliche Teilhabe vor allem über Konsum realisiert. Während einige aus einer schier unendlichen Optionenvielfalt wählen könnten, bedeute Armut einen Mangel an Optionen, d.h. hier müsse konsumiert werden, was an Überschüssen produziert werde. Tafeln seien demnach ein systemischer Teil der kapitalistischen Überproduktion. Die Tafeln können ihre Ziele der Verringerung von sozialer Ausgrenzung und Verminderung von Überschüssen nicht erreichen, da statt einer Marktintegration Kontrolle und Ausgrenzung vorherrsche, zudem seien sie auf die eigentlich zu bekämpfenden Überschüsse als Ressourcen ihrer Arbeit angewiesen. Die Tafeln seien demnach weniger ein Beitrag zur Überwindung aktueller gesellschaftlicher Probleme als vielmehr ein Beitrag zu ihrer Verfestigung.
Zwei Praxisberichte zeigten schließlich alternative Möglichkeiten auf, gegen Armut und soziale Ausgrenzung aktiv zu werden. Jürgen Schneider und Dietmar Hamann vom Armutsnetzwerk berichteten, wie aus einer kleinen Informationsseite für Obdachlose in Niedersachsen inzwischen ein bundesweit stark frequentiertes Informationsportal entstanden ist, das sich in Zukunft auch auf EU-Ebene weiter vernetzen wird.
Harald Gropp zeigte schließlich am Beispiel von Kompass, einem kirchlich organisierten Arbeitslosentreff in Darmstadt, wie der Kontakt zu anderen von Armut und Arbeitslosigkeit Betroffenen im Sinne von Hilfe zur Selbsthilfe helfen kann, wirtschaftliche und persönliche Notlagen zu meistern. Neben der Gelegenheit zum zwanglosen Frühstück bietet Kompass Vorträge von kompetenten Referenten, Klärung von arbeits- und sozialrechtlichen Fragen, Hilfe bei der Stellensuche am Arbeitsmarkt, Hilfe bei der Erstellung von Bewerbungsunterlagen sowie Begleitung bei Behördengängen.

Abgerundet wurde der erste Tag des Symposiums mit einem Vortrag von Holger Schoneville, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Kassel, der sich mit den Folgen von sozialer Ausgrenzung und Armut für Leben und Identität der Betroffenen beschäftigt. Im Rahmen seiner Doktorarbeit hat er einige Tafelnutzer interviewt und diese Interviews sequenzanalytisch ausgewertet, um der Frage nachzugehen, welche Form der Teilhabe die Menschen bei Tafeln erleben. Am Beispiel eines Interviews zeigte er auf, wie der Tafelbesuch Missachtungserfahrungen mit sich bringt, die dem eigentlichen Ziel sozialer Arbeit, nämlich der Entwicklung, Sicherung und Wiedergewinnung der Autonomie des Einzelnen in der Lebensgestaltung, zuwiderlaufen. Es zeigte sich bei fast allen Interviewpartnern, dass der Besuch der Tafel mit Scham, bzw. einer Einschränkung/Gefährdung des Selbstwerts einhergeht. Auch die Rationalisierung des Tafelbesuchs durch ökonomische Überlegungen, wie sie bei vielen Befragten erfolgt, ändere nichts an der strukturellen Verletzung der psychischen Autonomie der Betroffenen, so Schoneville.

Im Workshop „Tafeln als Sozialraum“ referierte Gero Utz vom Caritasverband Schwandorf auf Basis seiner praktischen Erfahrung mit der Organistion einer Tafel über verschiedene Solidaritätsformen und stellte u.a. die Frage, wie solidarisch Tafeln miteinander umgehen. Jürgen Malyssek arbeitete kritische Aspekte der Tafeln heraus und grenzte die Tafelarbeit von der professionellen Sozialarbeit ab. Schließlich stellte Barbara Dully (Diakonie Düsseldorf) eine lokale empirische Studie vor, bei der die NutzerInnen einer Düsseldorfer Tafel zu ihren Erfahrungen befragt wurden. Dabei zeigte sich, dass es zwar wichtig ist, derartige Zufriedenheitserhebungen auf lokaler Ebene durchzuführen, dass diese Einzelstudien jedoch aufgrund mangelnder Standardisierbarkeit nicht vergleichbar sind. Letztlich zeigt sich an dieser Stelle erneut, dass es im Bereich der Tafelforschung eine große Forschungslücke dort gibt, wo belastbare repräsentative Strukturdaten fehlen.

Prekarisierung und Transformationschancen

Der zweite Tag des Symposiums wurde von Frau Dr. Angelika Diezinger, Professorin für Soziale Arbeit an der Hochschule Esslingen, eingeleitet. Ihr Vortrag beschäftigte sich mit der zunehmenden Prekarisierung auf dem Arbeitsmarkt, den mentalen Folgen von beruflichen Abstiegserfahrungen und milieuspezifischen Strategien im Umgang mit Arbeitslosigkeit oder prekärer Beschäftigung. Es wurde deutlich, dass die Prozesse auf dem Arbeitsmarkt einen großen Teil der Bevölkerung betreffen und Milieuansätze eine viel differenziertere Analyse bieten können als herkömmliche Klassen- oder Schichtmodelle.
                                                                                                                          
Nach dem Vortrag von Frau Prof. Diezinger, der eher die Hintergründe der Tafelarbeit beleuchtete, ging es mit Prof. Dr. Peter Grottians Vortrag wieder in medias res. Mit dem Plädoyer des emeritierten Professors für Politikwissenschaft für einen dreitägigen Tafelschluss als Akt des zivilen Ungehorsams gegen die herrschende Arbeitsmarkt- und Zivilpolitik entfachte er eine kontroverse Diskussion. Er betonte dabei vor allem, dass ziviler Ungehorsam ein konstitutitives Element unserer Demokratie sei.Während unter den meisten Anwesenden Einigkeit im Hinblick auf die problematische politische Instrumentalisierung der Tafeln herrschte, die es zu beenden gelte, gab es unterschiedliche Ansichten zur Eignung der von Grottian vorgeschlagenen Strategie und zu den Umsetzungschancen, sei es auch nur auf lokaler/regionaler Ebene.

Tafeln und Armutspolitik

Nach der durch die rege Debatte verzögerten Mittagspause ging es wieder zurück in die Praxis. Hilde Rektorschek von der Kulturloge Marburg, die auch hessische Landesvertreterin der Tafeln ist, berichtete von ihrem Projekt, für das sie erst kürzlich den Freiherr-vom-Stein-Preis erhielt. Über verschiedenste soziale Organisationen können sich Interessierte an die Kulturloge wenden, um kostenlos Theateraufführungen oder Konzerte zu besuchen. Das Angebot wird sehr gut angenommen und fand Nachahmer in zahlreichen Städten, da gerade die kulturelle Teilhabe in Armutssituationen oft nicht mehr möglich ist. Dennoch blieb bei einigen Skepsis, da die bei den Tafeln oft kritisierte Bedürftigkeitsprüfung zwar nicht bei der Kulturloge selbst, aber indirekt über die sozialen Organisationen stattfindet. Zudem wies Sabine Werth von der Berliner Tafel darauf hin, dass mit den vielfältigen Angeboten (Medikamententafel, Tiertafel, Kulturlogen), die Arbeit der Lebensmittel-Tafeln ihre Legitimationsgrundlage verliere.

Claudia Daseking, politische Aktivistin aus Berlin, zeigte im Anschluss exemplarisch anhand von Zeitungsausschnitten, wie in Boulevard- und auch so genannten Qualitäts-Medien gegen ALG II-Empfänger gehetzt wird. Die historische Unterteilung in würdige und unwürdige Arme lebt besonders seit den Reformen der Agenda 2010 und dem damit verbundenen Leitspruch "Fördern und Fordern" wieder auf. Sogar der damalige Bundesminister Clement hatte 2005 in einer Broschüre zur Arbeitsmarktreform gegen die "Abzocke" und den vermeintlich weit verbreiteten Sozialleistungsmissbrauch gewettert und Arbeitslose als "Parasiten" bezeichnet. Die unsachliche Diffamierung von ALG II-Empfängern in Politik und Medien erschwert es, sich für die Belange von Arbeitslosen einzusetzen und UnterstützerInnen zu gewinnen.

Zivilgesellschaftliche Perspektiven

Dr. Stefan Schneider, Direktor des Europa-Institus für Sozialwissenschaften und Partizipation in Berlin, erläuterte in seinem Vortrag am Beispiel des Kaffee Bankrotts in Berlin, die Probleme, Grenzen und Chancen von sozialen (Selbsthilfe-)Treffpunkten. Im Zentrum der Arbeit stand zunächst auch das Sammeln von Lebensmitteln und deren Zubereitung und Verkauf zu Selbstkostenpreisen im Kaffee, nach und nach erweiterte sich jedoch das Spektrum des Angebots, was auch aufgrund der Mitfinanzierung durch eine Straßenzeitung möglich war.
Nach der durch zahlreiche Bilder veranschaulichten Darstellung des Projekts lieferte Dr. Schneider schließlich noch eine Vielzahl an kreativen Ideen zum zivilgesellschaftlichen Protest in Verbindung mit Lebensmitteln. Auf seiner Webseite kann man den gesamten Vortrag ansehen.

Abschlussdiskussion

Da einige schon vorher abreisen mussten fand statt einer Podiumsdiskussion eine gemeinsame Abschlussdiskussion statt, in der zunächst Prof. Selke die zentralen Problembereiche, die im Rahmen der Tagung immer wieder zur Sprache kamen, benannte. Entlang der Stichworte Suchprozesse, Standpunkte und Strategien kam nochmals eine spannende Diskussion auf.

Suchprozesse gibt es dort, wo es noch zu wenig vergleichbares Datenmaterial über Tafeln gibt, wo mit Alternativen zu Tafeln und Begrenzungen des Tafelangebots experimentiert wird, wo die Frage aufkommt, ob und wie bei Tafeln Qualitätsmanagementprozesse zu etablieren seien und wie die symbolische bzw. mediale Darstellung der Tafeln sich auf deren Wahrnehmung bzw. auf die Selbstwahrnehmung der Tafelnutzer auswirkt.
Die Frage nach den Standpunkten oder besser: der Haltung zu Tafeln stellte sich – nicht wirklich überraschend – auch dem Rahmen des 2. Tafelsymposiums – neu. Die Diskussion zeigte dabei, dass viele Akteure aufgrund von institutionellen Zwängen keine eindeutige Positionierung vornehmen können oder wollen. Dieser Grundkonflikt bestimmt gegenwärtig die Fachdiskussion.

Unter dem Stichwort Strategien wurden abschließend nochmals die Vorschläge von Prof. Dr. Peter Grottian diskutiert, wobei es um die gemeinsame Ausgestaltung und Durchführung einer Aktionswoche rund um das 3. Interdisziplinäre Tafelsymposium ging, dass 2013 in Berlin stattfinden wird.