Die Heimatstadt soll zum Adresshändler werden

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Gut eine Woche, nachdem der Bundestag das neue Meldegesetz verabschiedet hat, wird die öffentliche Kritik daran lauter. Sie entzündet sich an Paragraf 44 des neuen Bundesmeldegesetzes. Mit der Neuregelung können kommerzielle Adresshändler, Inkassofirmen oder die Werbewirtschaft künftig in großem Umfang Daten erwerben, die der Staat erhebt.

"Gesetzlicher Wahnsinn"

In der Wochenendausgabe der "Süddeutschen Zeitung" kritisierte der Datenschutzbeauftragte Schleswig-Holsteins, Thilo Weichert, die Neuregelung als "gesetzlichen Wahnsinn". Ähnlich hatte er sich zuvor bereits im ARD-Morgenmagazin geäußert. Hier werde ein riesiges Datengeschäft aufgemacht, an dem die Kommunen noch nicht einmal verdienen würden, so Weichert am Mittwoch in der ARD.

Der bayerische Datenschutzbeauftragte Thomas Petri bezeichnete den vorgesehenen Zugriff der Privatwirtschaft auf staatliche Daten als "unsäglich". Er forderte die Landesregierung in München auf, die neue Vorschrift im Bundesrat zu stoppen. Hamburgs Datenschutzbeauftragter Johannes Caspar sagte dem NDR, Offensichtlich habe eine einflussreiche Lobby erfolgreich Druck auf die schwarz-gelbe Bundesregierung ausgeübt.

"Wo war eigentlich die Verbraucherministerin?"

Auch SPD, Grüne, Linkspartei und die Jungen Liberalen äußerten sich nach Verabschiedung des Gesetzes kritisch. "Mal wieder bedient Schwarz-Gelb eine Klientelgruppe und deren Profitinteressen und stellt den allgemeinen Daten- und Verbraucherschutz hinten an", erklärte Grünen-Fraktionschefin Renate Künast. Sie kritisierte konkret Verbraucherminister Ilse Aigner. "Wo war eigentlich die Verbraucherministerin, als die notwendige Einwilligung in die Datenweitergabe gestrichen wurde?", so Künast. Was Aigner versäumt habe, müssten nun die Länder im Bundesrat retten.

Die Länderkammer will im Herbst über die Neuregelung beraten. Der Parlamentarische Geschäftsführer der Grünen, Volker Beck, sagte voraus: "Das Melderechtsgesetz wird den Bundesrat so nicht passieren."

"Ich will nicht, dass meine Heimatstadt meine Adresse verkauft"

SPD-Chef Sigmar Gabriel schrieb in einem Facebook-Beitrag: "Ich will nicht, dass meine Heimatstadt meine Adresse an Werbefirmen oder professionelle Datensammler verkaufen kann. Genau das sieht aber das neue Meldegesetz vor, das CDU/CSU und FDP gegen die SPD bereits durch den Bundestag gebracht haben." Die Bundesregierung sei der Lobby der Datensammler gefolgt. Er wundere sich "ein bisschen, dass der öffentliche Aufschrei der Empörung bislang ausgeblieben" sei, fügte Gabriel an.

Zwar haben einige Medien - so auch tagesschau.de - über das neue Gesetz berichtet, die Kritik daran wurde aber bislang tatsächlich vor allem in Internetforen laut.

Empört reagierte inzwischen auch die Linke-Bundestagsabgeordnete Eva Bulling-Schröter. Sie sprach von einem "schweren Datenskandal". Die Bürger müssten selbst entscheiden können, was mit ihren Daten geschieht und wer zu welchem Zeitpunkt Zugriff darauf hat. Für Union und FDP hätten aber die Anliegen von Lobbyisten aus der Wirtschaft stets mehr Gewicht als das Datenschutzinteresse der Allgemeinheit.

"Die JuLis sind enttäuscht"

Aber auch aus den Reihen der Koalition kommen kritische Stimmen. der Bundesvorsitzende der Jungen Liberalen (JuLis), Lasse Becker, sagte, die JuLis seien "enttäuscht über die Novelle des Melderechts". Gerade Liberale sollten an dieser Stelle eine größere Sensibilität walten lassen. "Die Daten der Einwohnermeldeämter sind dafür da, dass öffentliche Verwaltungen einen gesicherten Datenbestand haben und nicht damit irgendwelche Versandhändler meine Adressdaten überprüfen können", so Becker.

Widerspruch de facto kaum möglich

Das geplante Gesetz sieht vor, dass Privatfirmen bei den Einwohnermeldeämtern nicht nur Daten wie Name oder Adresse erfragen dürfen, sondern auch Umzüge oder Todesfälle. Zwar sollen Bürger dagegen Widerspruch einlegen können. Dieser gilt aber nicht, wenn die Firma bereits Daten des Bürgers hat. De facto bedeutet das: Wer seine Daten einmal einer Werbefirma oder einem Adresshändler zur Verfügung gestellt hat - etwa bei einem Preisausschreiben oder einer Katalogbestellung - kann dann nicht mehr verhindern, dass diese bis zu seinem Tod aktualisiert und eventuell auch weiterverkauft werden.

Die Kommunen können für die Daten Gebühren erheben. Experten vermuten allerdings, dass an der Neuregelung vor allem Adresshändler verdienen, die die Daten einmal von den Kommunen erwerben und dann an viele andere Firmen weiterverkaufen.

Quelle: tagesschau.de vom 07.07.2012