Denkanstoß Nr. 21

Veröffentlicht in Allgemeines

Zehn Jahre Agenda-Politik: Eigenlob stinkt!

von Gastautor Norbert Wiersbin

„Eigenlob stinkt“, sagt der Volksmund. Auf den Jubelfeiern zum Jahrestag der Agenda 2010 ergehen sich die geistigen und politischen Väter der umstrittenen Sozialreform in ihrer Hybris. Sie suhlen sich im Lichte der Scheinwerfer, diese vereinigten Täter. Das Eigenlob stinkt bis zum Himmel und nimmt den ungeladenen Zaungästen (den entrechteten Opfern der Jubilare) die Luft zum atmen. Während die einen Sekt schlürfen, droht den anderen der Erstickungstod. Verkommene Charaktere juckt das wenig, sie tanzen selbst auf Gräbern noch.

Aber kaum kommt Stimmung in der erlauchten Runde auf, treten auch schon die Spielverderber auf den Plan. Andrea Ypsilanti ist so eine, mit der schon seit langem kein Kanalarbeiter mehr spielen will. Andrea nervt mit ihren penetranten Verweisen auf die unübersehbaren Folgen für die Menschen und den sozialen Frieden. Das schmälert (kurzzeitig) die Feierlaune. Zugenommen habe nur die prekäre Beschäftigung, Leiharbeit, Aufstocker und Minijobs, ätzt die Ungeliebte.1 Während ein weiterer Tusch und ein gröhlendes „Prosit“ die ungebetene Störung übertönt.

Andrea Ypsilanti hatte mal Gewicht in ihrer Partei, zumindest für diejenigen, die keine Karriere im Tiefbau anstrebten. Sigrid Karpelis-Sperk, Ottmar Schreiner, Johano Strasser und wenige andere standen ihr damals zur Seite, strengten gemeinsam ein Mitgliederbegehren an. Vergebens, wie erwartet. Gegen jede Vernunft und ungehört aller Mahner wurde die Agenda durchgeboxt, die Spaltung der Gesellschaft vorangetrieben und die politisch gewollte Armut salonfähig.

„Der Druck war brutal“, sagt Ypsilanti dazu im Interview mit der Süddeutschen Zeitung (SZ). Wohl wahr. Brutal sind auch die Folgen dieser verräterischen Politik, sie führt in die Verelendung und in den Tod. Auch der Verlust von hunderttausenden Mitgliedern, die sich dauerhaft und unversöhnlich von der Partei abgewandt haben, bietet nicht wirklich Anlass zur Euphorie. Aber die Jubilare sind ja auch nicht nüchtern.

Auch der Sozialrichter Jürgen Borchert meldet sich bei der Gelegenheit in der SZ zu Wort. Borchert hat sich einen Namen gemacht, als entschiedener Kritiker der Reformen. „Über Jahrzehnte wurde entsprechend darauf geachtet, dass sich die Lohnspirale von unten nach oben drehte. Mit der Agenda 2010 wurde diese Richtung umgedreht: Die Lohnspirale wurde nach unten programmiert“, merkt Borchert an.2 Es sei eine Entwicklung in Gang gebracht worden, die zur Verelendung der Massen und zu einer Gefährdung der Demokratie geführt habe. Der soziale Friede, die Grundlage jeder staatlichen Ordnung, sei ernsthaft gefährdet. Borchert spricht von einem Kampf (der inzwischen wohl eher zu einem Gefecht gediehen ist, Anm. N. W,), den der Staat gegen die Mittelschicht und gegen die Arbeitnehmer führt. „Ausgerechnet in dieser Situation, in welcher Arbeitslosigkeit weniger denn je auf individuellen Gründen beruht, den Arbeitslosen mit der Eigenverantwortung zu kommen, ist ein Zynismus sondergleichen und bestätigt die Stimmen, die sagen, der Staat würde die Arbeitslosen bekämpfen und nicht die Arbeitslosigkeit.

Je länger die Party andauert, desto schwieriger wird es, die Jubilare auf den Grund ihres Überschwangs anzusprechen. Zu benebelt sind die Geister, zu erdrückend der Hochmut. „Wir haben den größten Sklavenmarkt Europas geschaffen“, lallt einer, die fette Havanna wie einen Mittelfinger zur Decke streckend. Er nennt sich Gerhard Sch., möchte gerne anonym bleiben, hat Angst um seine Frau und Kinder, zu Weihnachten sogar um die verarmte Mutter. „Wir haben die Sozialhilfe und die Arbeitslosenhilfe zusammengeführt, das hat nicht einmal der Kohl geschafft“, posaunt ein anderer, der seinen eigenen Namen nicht mehr kennt. Das einsetzende Feuerwerk macht jede weitere Nachfrage obsolet.

Der Volksmund ist weise, er überliefert uraltes Wissen über das Leben und das menschliche Miteinander. „Hochmut kommt vor dem Fall“, auch das gehört seit tausenden von Jahren zum Kanon der Erkenntnis. Der Fall kommt also später, folgt dem Rausch und führt unabweislich auf den Pfad der Ernüchterung.

Selbst wenn im Prunksaal alle nüchtern wären, könnten Kritiker die Feier nicht ernsthaft stören. Jeder Einwand bliebe ungehört, auch darin sind sich die Protagonisten des Elends einig. Aber die Stimmen draußen werden lauter und es werden immer mehr. Bald werden sie ein Klangvolumen erreichen, das jeden Tusch übertönt. Dann ist die Party zu Ende. Und der Letzte macht schlussendlich das Licht aus!

© Norbert Wiersbin (2013)

Quelle:www.norbertwiersbin.de