Serie - Teil 5: Hartz IV verstößt gegen internationales und nationales Recht

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5. Während die Mühlen langsam mahlen…

In der Diskussion um die Sanktionspraxis im SGB II halten mir zahlreiche Juristen gebetsmühlen-artig1 entgegen, dass diese wohl rechtens sei, schließlich habe das Bundesverfasssungsgericht (BverfG) hierzu noch kein Urteil gesprochen. Als juristischer Laie erschließt sich mir diese spezifische Logik nicht – trotz andauernder und ernsthafter Bemühungen.

Wie dem auch sei sollten alle Verfechter des Sozialstaates keine Möglichkeit auslassen, den fortlaufenden und systematischen Rechtsbruch, verübt im Regierungsauftrag, vor ein Tribunal zu bringen und auf die Vereinbarkeit mit geltendem Recht überprüfen zu lassen. Dabei kommt es darauf an, alle Energien und Ressourcen auf einen erfolgversprechenden Weg zu konzentrieren, einen Weg, der ein möglichst zeitiges Ergebnis ermöglicht. Meines Erachtens sollte die politische „Elite“ (oder die, die sich dafür hält) noch vor der Bundestagswahl am 22.09.2013 unter erheblichen Druck gesetzt und zu einer Kurskorrektur ermuntert werden. Betrachten wir dazu zunächst einmal die denkbaren Klagewege und die Verfahren, die jeweils zwingend vorgeschrieben sind.

5.1. Rechtsmittel gegen einen Verwaltungsakt

Der übliche und bekannteste Weg Rechtsmittel gegen einen streitigen Verwaltungsakt einzulegen ist zunächst der formale Widerspruch.2 Dieser Widerspruch wird sodann durch eine sog. Widerspruchsstelle bearbeitet, wir hören zunehmend davon, dass diese in Personalunion mit den Bescheidern besetzt sind. So wird der Bock zum Gärtner gemacht, was davon aus Sicht der Judikative zu halten ist, habe ich bereits im ersten Teil dieser Serie ausgeführt. Wird dem Widerspruch nicht abbeholfen (Amtsdeutsch für abgelehnt), ist der Klageweg vor einem ordentlichen Gericht eröffnet. Achtung: Für Streitigkeiten im SGB II hat ein Widerspruch keine aufschiebende Wirkung, das heißt, er setzt den Bescheid nicht bis zur (gerichtlichen) Klärung aus!

5.1.1. Lassen Sie sich engagiert und kompetent vertreten!

Ab jetzt ist die Vertretung durch einen engagierten und kompetenten Fachanwalt für Sozialrecht und/oder Verwaltungsrecht dringend zu empfehlen. Die Kolleginnen und Kollegen der juristischen Fakultät mögen es mir nachsehen, dass Erfahrungen aus dem Verkehrs- oder auch Ordnungswidrigkeitenrecht für die nun anstehenden Verfahren nur selten ausreichen.

5.2. Die Sozialgerichtsbarkeit

Die Sozialgerichtsbarkeit ist die in Angelegenheiten des Sozialrechts tätig werdende Gerichtsbarkeit. Die Sozialgerichtsbarkeit ist dreistufig aufgebaut. Die erste Instanz ist grundsätzlich das Sozialgericht (SG), Berufungs und Beschwerdeinstanz das Landessozialgericht (LSG) in den jeweiligen Bundesländer und Revisions-sowie Rechtsbeschwerdeinstanz das Bundessozialgericht (BSG) mit Sitz in Kassel. Die Sozialgerichtsbarkeit ist von der Arbeitsgerichtsbarkeit und der Verwaltungsgerichtsbarkeit abzugrenzen. Die Abgrenzung erfolgt nach dem Rahmen der Zuständigkeit. Derzeit bestehen 68 Sozial-, 14 Landessozial- und ein Bundessozialgericht. (…)

Das Verfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit ist geprägt vom Amtsermittlungsgrundsatz (§ 103, § 106 SGG). Das Gericht hat den Sachverhalt, jedenfalls soweit er streitig ist, von Amts wegen zu erforschen. In der ersten Instanz schließt sich an die Klageerhebung in der Regel ein schriftliches Verfahren an, innerhalb dessen die vorbereitenden Ermittlungen stattfinden (Einholung von Gutachten, gelegentlich auch schon Zeugenvernehmungen). In diesem Verfahrensstadium wirken die ehrenamtlichen Richter nicht mit. Die Ermittlungen sollen so weit vorangetrieben werden, dass der Rechtsstreit in einer einzigen mündlichen Verhandlung erledigt werden kann. Die mündliche Verhandlung stellt den Regelfall dar; daneben kann der Rechtsstreit unter bestimmten Voraussetzungen aber auch durch schriftliche Entscheidungen oderGerichtsbescheide ohne vorherige mündliche Verhandlung beendet werden. Abweichend zum Zivilprozeß ist in der Sozialgerichtsbarkeit auch nicht der Grundsatz der formellen Wahrheit, sondern derjenige der materiellen Wahrheit verfahrensgestaltend. Jedoch existiert auch im sozialgerichtlichen Verfahren die objektive Beweislast. Weiterer Verfahrensgrundsatz der Sozialgerichtsbarkeit ist derjenige der Klägerfreundlichkeit. Neben grundsätzlicher Kostenfreiheit besteht beispielsweise kein Vertretungszwang. Bis zur Neufassung des § 92 SGG am 1. April 2008[8]war auch, wiederum gegensätzlich zum Zivilprozeß und auch zum Verwaltungsprozeß, es nicht erforderlich einen bestimmten Antrag zu stellen (…).

Als Rechtsmittel stehen Berufung und Revision zur Verfügung. Als Berufungsgericht fungieren die Landessozialgerichte, als Revisionsgericht das Bundessozialgericht.“3

5.3. Die Verwaltungsgerichtsbarkeit

Die Verwaltungsgerichtsbarkeit ist der Zweig der deutschen Gerichtsbarkeit, der der gerichtlichen Kontrolle des Verwaltungshandelns dient. Die auf der Grundlage von Art. 95 des Grundgesetzes eingerichteten Verwaltungsgerichte gewährleisten in ihrem Zuständigkeitsbereich die vonArt. 19 Abs. 4 GG verlangte Überprüfbarkeit sämtlicher öffentlicher Akte. In erster Instanz sind in der Regel die Verwaltungsgerichte zuständig (§ 45 VwGO). In den meisten Ländern ist je Regierungsbezirk ein Verwaltungsgericht eingerichtet. Da im 17. Jahrhundert die Verwaltungsgerichte nicht mit unabhängigen Richtern, sondern mit Beamten besetzt waren, hat sich die historische Bezeichnung außerordentliche Gerichtsbarkeit erhalten. Diese Unterscheidung hat jedoch keine Bedeutung mehr, da Art. 92, Art. 97 GG jede Rechtsprechung persönlich und sachlich unabhängigen Richtern zuweist. (…)

(Auch) die Verwaltungsgerichtsbarkeit ist dreistufig aufgebaut. Für die meisten verwaltungsgerichtlichen Verfahren ist als erste Instanz das Verwaltungsgericht zuständig. Berufungs- und Beschwerdeinstanz der Verwaltungsgerichte sind die Oberverwaltungsgerichte (OVG) bzw.Verwaltungsgerichtshöfe (VGH) der Bundesländer. Jedes Bundesland hat mittlerweile ein OVG oder einen VGH, das oder der – außer in Bayern, Sachsen-Anhalt und den Stadtstaaten - seinen Sitz nicht in der Landeshauptstadt hat, um die Unabhängigkeit von der Verwaltung auch räumlich zu verdeutlichen (Zur Liste der Sitze vgl. Oberverwaltungsgericht). Schleswig-Holstein etwa hat erst 1991 ein eigenes OVG eingerichtet; bis dahin war das OVG Lüneburg in Niedersachsen gem. § 3 Abs. 2 VwGO auch für das Land Schleswig-Holstein zuständig.

Die Oberverwaltungsgerichte sind bei Normenkontrollen von Satzungen, landesrechtlichen Vereinsverboten und Genehmigungen von technischen oder verkehrlichen Großprojekten erste Instanz (§ 47 VwGO).

Revisions- und Rechtsbeschwerdeinstanz ist das Bundesverwaltungsgericht mit Sitz in Leipzig. Auch das Bundesverwaltungsgericht kann bei Streitigkeiten der Versicherungsaufsicht und übrigen nichtverfassungsrechtlichen Streitigkeiten zwischen Bund und Ländern erste Instanz sein.4

5.4. Die Verfassungsgerichtsbarkeit

Die Verfassungsgerichtsbarkeit prüft die Vereinbarkeit oder Verfassungsmäßigkeit von Hoheitsakten, insbesondere Gesetzen, mit der jeweiligen Verfassung. Sie hat dabei die Möglichkeit, solche Akte als verfassungswidrig zu erklären. Die Folgen einer solchen Erklärung sind vom jeweiligen Rechtskreis abhängig. (…) Die Rechtsfolgen der Feststellung der Verfassungswidrigkeit eines Rechtsakts sind ebenfalls von Land zu Land unterschiedlich.

Die Wirkung der Feststellung der Verfassungswidrigkeit tritt teils von Rechts wegen ein, ohne dass es einer besonderen Anordnung des Verfassungsgerichts bedarf. In einigen Staaten ist das Gesetz ab dem Zeitpunkt des verfassungsgerichtlichen Urteils unwirksam, d. h. Gerichte und Verwaltung dürfen das Gesetz nicht mehr anwenden, und der Gesetzgeber wird innerhalb einer Frist zur Neuregelung verpflichtet (Spanien). In den meisten Staaten wird das Gesetz dann rückwirkend für nichtig befunden, d. h. auch bereits ergangene, auf ihm beruhende Entscheidungen, z. B. von Strafgerichten, werden aufgehoben (Italien, Griechenland, USA).

Manche Verfassungsgerichte können die Rechtsfolge selbst festlegen (Belgien, Deutschland, Portugal); in diesen Fällen kann das Verfassungsgericht die Unwirksamkeit ab dem Zeitpunkt des Urteils oder die rückwirkende Nichtigkeit anordnen, aber auch die gegenüber der Nichtigkeit des Gesetzes mildere Rechtsfolge, dass der Gesetzgeber zur Neuregelung verpflichtet wird, das Gesetz aber bis dahin weiter angewendet werden darf (sog. Appelentscheidung). (…) Nur in einem Teil der Länder können von einem Gesetz unmittelbar Betroffene direkt Verfassungsbeschwerde erheben (Belgien, Deutschland, Lettland, Österreich, Polen, Portugal, Slowenien, Spanien, Tschechien und Ungarn). In anderen Ländern ist die Verfassungsbeschwerde nur gegen Gerichtsurteile möglich; es muss dann erst Rechtsschutz vor den allgemeinen Gerichten gesucht werden (Dänemark, Estland, Finnland, Griechenland, Italien, Irland, Litauen, Niederlande, Norwegen, Schweiz, Schweden, USA).

Während in Deutschland und anderen Ländern grundsätzlich beide Wege (Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen ein Gesetz oder Verfassungsbeschwerde gegen Urteil) möglich sind, ist in Österreich die Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Urteilen nicht möglich; das Verfassungsgericht entscheidet also nur über Rechtsakte der anderen Gewalten, nicht über Akte der Judikative. In wenigen Fällen können alle Bürger auch ohne eigene Betroffenheit Verfassungsbeschwerde gegen ein Gesetz einlegen (Slowenien, Ungarn, in Deutschland nur in Bayern); man spricht hier von einer verfassungsgerichtlichen Popularklage.5

5.5. Tag ein Tag aus wird millionenfach gelitten, gehungert und zunehmend auch gestorben!

Die hier aufgezeigten Möglichkeiten, das SGB II höchstrichterlich überprüfen zu lassen, sind allesamt mit großem zeitlichen, aber auch finanziellem Aufwand verbunden. Alle Erfahrungen zeigen, dass wir von Zeitläufen von mindestens fünf Jahren ausgehen müssen. Bis dahin wird jedoch Tag ein Tag aus millionenfach gelitten, gehungert und zunehmend auch gestorben. Bislang ist es noch in keinem Verfahren gelungen, eine Entscheidung vor dem Bundesverfassungsgericht zu erzwingen. Wir müssen uns auf die Suche nach kürzeren und effektiveren Wegen machen, um dem Unrecht Einhalt zu gebieten!

In Teil 6 der Serie “Hartz IV verstößt gegen internationales und nationales Recht” werden weitere Möglichkeiten vor den nationalen Gerichten sowie die Klagewege vor internationalen Tribunalen aufgezeigt.

 

1 Das ist jetzt ausdrücklich kein Verschreiber!

2 Einen Widerspruch kann jeder Betroffene auch ohne anwaltliche Unterstützung einlegen. Dazu reicht ein formloses Schreiben an die bescheidende Behörde, es empfiehlt sich eine Begründung, die sich ausschließlich (!) auf den erkannten Rechtsverstoß konzentriert. Ganz wichtig ist es dabei, die Frist zu wahren, diese muss sich aus dem Bescheid ergeben. Nur mit dem Verweis darauf, ist ein Bescheid rechtskräftig, anderenfalls greift er per se nicht. Zur Fristwahrung reicht auch ein rechtzeitiges Schreiben „Ich erhebe Widerspruch gegen den Bescheid vom…AZ: xy”, die Begründung sollte dann aber zeitnah nachgereicht werden. Vgl hierzu: http://de.wikipedia.org/wiki/Widerspruch_(Recht)

http://de.wikipedia.org/wiki/Verfassungsgerichtsbarkeit

© Norbert Wiersbin (2013)