Serie - Teil 6: Hartz IV verstößt gegen internationales und nationales Recht

Veröffentlicht in Allgemeines

In der vorangegangenen Folge dieser Serie haben wir die Möglichkeiten einer Individualklage vor der deutschen Gerichtsbarkeit erörtert. Es bieten sich weitere Klagewege an, die von juristischen Personen (Organisationen, Verbände u.ä.) beschritten werden könnten. Diese sollen nachfolgend aufgezeigt werden, der Vollständigkeit halber und um eine Einschätzung der Erfolgsaussichten dieser Formen der Gegenwehr zu ermöglichen. Anschließend wollen wir uns auf die Möglichkeiten konzentrieren, internationale Tribunale anzurufen.

Vorweg sei hier noch angemerkt, dass auch im Zuge einer Individualklage (auf dem Weg durch die Instanzen) ein Anrufen des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) möglich wäre. Derartige Verfahren könnten grundsätzlich – vorausgesetzt einer begründeten Verdachts auf Verletzungen des Grundgesetzes – durch das Gerichte ausgesetzt und zur Überprüfung an das BVerfG weitergeleitet werden. Dieser Weg wäre aber immer einer Entscheidung des zuständigen Gerichts vorbehalten, bislang hat sich nach unserem Kenntnisstand noch kein Richter dazu durchringen können.

6.1. Der Organstreit

Mit dem Rechtsbegriff Organstreit oder Organstreitigkeit werden im öffentlichen Recht in Deutschland verfassungsrechtliche Streitigkeiten über den Umfang der Rechte und Pflichten oberster Verfassungsorgane oder ihrer Mitglieder bezeichnet. Bei einem Organstreit handelt es sich um die Frage der Rechtmäßigkeit von Maßnahmen, die organisatorische Wirkungen zwischen Verfassungsorganen oder auch nur ihren Mitgliedern betreffen. Es gibt vergleichbare Streitigkeiten auf allen Ebenen der Organe der öffentlich-rechtlichen Körperschaften, bis hin zum Kommunalverfassungsstreit.(…)

Das Organstreitverfahren hat seine Grundlage im Gewaltenteilungsprinzip und im Minderheitenschutz. Allerdings sind Organstreitverfahren wegen der parteipolitischen Verbindungen eher selten. Der Minderheitenschutz spielt hingegen eine erhebliche Rolle. Durch das Organstreitverfahren hat die Opposition die Möglichkeit, ihre Minderheitsrechte vor dem deutschen Bundesverfassungsgericht geltend zu machen und durchzusetzen. Das Organstreitverfahren ist in Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG genannt und in § 13 Nr. 5, §§ 63 ff. BVerfGG konkretisiert.(…)

Um vor dem Bundesverfassungsgericht im Rahmen eines Organstreitverfahrens klagen zu können, müssen bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein. Die Voraussetzungen für Organstreitigkeiten vor den Verfassungsgerichten der Länder sind weitgehend vergleichbar: Antragsberechtigt sind oberste Bundesorgane im Sinne des Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG. Dazu zählen der Bundespräsident, der Bundestag, Bundesrat und die Bundesregierung sowie die gemeinsamen Ausschüsse (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG i.V.m. § 13 Nr. 5, § 63 BverfGG).

Antragsberechtigt sind auch Teile dieser Organe, sofern sie unter „andere Beteiligte“ im Sinne des Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG fallen. Organteile können etwa der Bundestagspräsident, der einzelne Abgeordnete (als Teil des Organs Bundestag), Bundesminister (In-Sich-Streit zwischen einzelnen Bundesministern ist unzulässig), Fraktionen sowie politische Parteien, sofern diese in ihrer (organschaftlichen) Stellung als Mitwirkende am Verfassungsleben betroffen sind, sein.

Ein zulässiger Antrag liegt nach diesem Kriterium nur dann vor, wenn der Antragssteller die Verletzung eigener, aus der Verfassung herleitbarer Rechte hinreichend geltend macht. An dieser Stelle wird jedoch nur festgestellt, ob ein solches Recht verletzt sein könnte (Möglichkeitstheorie). Die konkrete Frage, ob die Verletzung tatsächlich vorliegt, wird im Rahmen der Begründetheit geklärt.1

Die Möglichkeiten, das Hartz-System über den Weg eines Organstreites anzugreifen, waren bis heute (nach immerhin 58 Gesetzesänderungen seit Inkrafttreten im Jahre 2005) verbaut. An dieser Stelle hat die Bundesregierung als Initiator der Gesetzgebungsverfahren offensichtlich „sauber“ gearbeitet und den politischen Widersachern bislang keine Angriffsfläche geboten.

6.2. Die Verbandsklage

Als Verbandsklage wird die Klage von Vereinen oder Verbänden bezeichnet, mit der diese nicht die Verletzung eigener Rechte geltend machen, sondern die der Allgemeinheit. Im deutschen Recht gibt es mittlerweile in den verschiedenen Rechtsgebieten unterschiedlich ausgeprägte Möglichkeiten, eine Verbandsklage zu erheben.

Besondere Bedeutung kommt Verbandsklagen im Umweltrecht zu. Grundsätzlich liegt dem deutschen Verwaltungsprozessrecht das System des Individualrechtsschutzes zugrunde. Nach § 42 Abs. 2 VwGO ist nur derjenige klagebefugt, der geltend macht, durch den Verwaltungsakt in eigenen Rechten (subjektiv-öffentliches Recht) verletzt zu sein.2

Aber auch in sozialrechtlichen Streitfällen könnte die Verbandsklage das Mittel der Wahl sein. „Das Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen enthält in § 13 BGG ein Verbandsklagerecht, nachdem ein anerkannter Behindertenschutzverband Klage nach Maßgabe der Verwaltungsgerichtsordnung oder des Sozialgerichtsgesetzes erheben kann auf Feststellung eines Verstoßes gegen bestimmte behindertenschutzrechtliche Vorschriften.“3

Behinderte Menschen sind in den Fängen des Hartz-System häufig einer besonderen Entwürdigung und nicht selten erschreckender Diskriminierungen ausgesetzt. Hier wären nun die Verbände gefragt, die sich dem Schutz Behinderter verschrieben haben. Es wäre zu begrüßen, wenn diese Organisationen die Möglichkeiten dieses Rechtsweges noch einmal ernsthaft prüfen würden.

6. 3. Die Normenkontrolle

Als Normenkontrolle bezeichnet man die Überprüfung von Rechtsnormen daraufhin, ob sie mit höherrangigem Recht vereinbar sind. Normenkontrollen werden von Gerichten vorgenommen und sind geschichtlich aus dem Richterlichen Prüfungsrecht hervorgegangen. Die Befugnis von Gerichten, Rechtsnormen auf ihre Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht zu überprüfen, und die niederrangigen Normen im Falle der Nicht-Vereinbarkeit für nichtig zu erklären wird als Normenkontrollkompetenz bezeichnet.

In Deutschland ist die Normenkontrolle von nachkonstitutionellen (d.h. nach Erlass der jeweiligen Verfassung verabschiedeten), formellen (d.h. typischerweise vom Parlament verabschiedeten) Gesetzen grundsätzlich der Verfassungsgerichtsbarkeit vorbehalten (vgl. Art. 100 Abs. 1 GG). Das jeweilige Verfassungsgericht (Bundesverfassungsgericht oder Verfassungsgericht des Landes) überprüft in den Verfahren der abstrakten oder konkreten Normenkontrolle das Gesetz auf die Verfassungsmäßigkeit. Außerdem überprüft das Bundesverfassungsgericht (und je nach Landesrecht das Landesverfassungsgericht) im Rahmen von Verfassungsbeschwerden auch die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen, entweder weil das Gesetz als Eingriffsermächtigung inzident geprüft wird oder weil die Verfassungsbeschwerde direkt gegen ein belastendes Gesetz (prinzipal) gerichtet ist.(…)

Bei der abstrakten Normenkontrolle vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) kann die Bundesregierung per Kabinettsbeschluss, eine Landesregierung oder ein Viertel der Mitglieder des Bundestages einen Antrag gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 Grundgesetz in Verbindung mit § 13 Nr. 6BVerfGG an das Bundesverfassungsgericht stellen. Prüfungsgegenstand ist jede Rechtsnorm mit Außenrechtsgehalt (daher ist keine Überprüfung von Verwaltungsvorschriften möglich), die mit Ausnahme von völkerrechtlichen Verträgen bereits verkündet wurde. Nach § 76 Abs. 1 BVerfGG muss der Antragssteller das angegriffene Recht für nichtig halten, Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG spricht jedoch von Zweifeln. Insoweit ist umstritten, ob die im Grundgesetz geforderten „Zweifel“ dem „für nichtig halten“ vorgehen. (…)

Bei der konkreten Normenkontrolle legt ein erkennendes Gericht gemäß Art. 100 GG, § 13 Nr. 11 BVerfGG dem Bundesverfassungsgericht ein Parlamentsgesetz zur Prüfung vor. Voraussetzung ist, dass es im zu entscheidenden Fall auf die Verfassungsmäßigkeit eines nachkonstitutionellen Gesetzes ankommt und das erkennende Gericht von der Unvereinbarkeit des Gesetzes mit der Verfassung überzeugt ist. Es trifft dann einen Vorlagebeschluss und setzt das Verfahren bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aus. Untergesetzliche Rechtsnormen kann und muss das Fachgericht, wenn es von ihrer Verfassungswidrigkeit überzeugt ist, ohne Vorlage selbst unangewendet lassen.4

In 2010 brachte das Bundessozialgerichts eine Normenkontrolle auf den Weg, die sich auf die mögliche Verfassungswidrigkeit der Festsetzung der Regelsätze im SGB II stützte. Mit Erfolg: Unter Vorsitz des damaligen Präsidenten des BverfG, Hans-Jürgen Papier, wurde ein Urteil verkündet (Az.: 1 BvL 1/09; 1 BvL 3/09; 1 BvL 4/09). Nach Ansicht des ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) in Karlsruhe war die Berechnung der Regelsätze als verfassungswidrig eingestuft worden. Die Bundesregierung musste daraufhin die Berechnung neu festsetzen. 5

6.4. Mögliche Klagen vor internationalen Tribunalen

Erfolgversprechende Klagemöglichkeiten vor internationalen Tribunalen bieten sich vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) sowie vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Zwar wurde in den letzten Tagen von einem angestrebten Verfahren vor dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) berichtet, dieser Versuch dürfte jedoch untauglich und damit wenig erfolgversprechend sein. Schließlich ist es die originäre Aufgabe des ISTGH, Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Kriegsverbrechen und ähnliche Gräueltaten) zu ahnden, von einer derartigen Qualität der Rechtsverstöße im SGB II kann aber nicht ernsthaft die Rede sein.

6.4.1. Der Europäische Gerichtshof

Der europäische Gerichtshof (EuGH) ist das oberste rechtsprechende Organ der Europäischen Union (EU). Nach Art. 19 Abs. 1 Satz 2 EUV sichert er „die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge“. Zusammen mit dem Gericht der Europäischen Union und dem Gericht für den öffentlichen Dienst der Europäischen Union bildet er das Gerichtssystem der Europäischen Union, das im politischen System der Europäischen Union die Rolle der Judikative einnimmt. (…)

Für Klagen der Europäischen Kommission (v. a. Vertragsverletzungsverfahren), Klagen anderer Organe der Europäischen Union oder der Mitgliedstaaten, die nicht gegen die Kommission gerichtet sind, sowie für die Entscheidungen im Vorabentscheidungsverfahren ist der EuGH allein zuständig.

6.4.1.1. Vertragsverletzungsverfahren

Die Europäische Kommission kann einen Mitgliedstaat − nach einem Vorverfahren − vor dem EuGH verklagen. Der EuGH prüft dann, ob ein Mitgliedstaat seinen sich aus dem Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union ergebenden Verpflichtungen nicht nachgekommen ist. Dem EuGH wird eine Klageschrift zugestellt, die teilweise im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht und dem Beklagten zugestellt wird. Je nach Fall kommt es zu einer Beweisaufnahme und einer mündlichen Verhandlung. Im Anschluss daran gibt der Generalanwalt seine Schlussanträge ab. Darin macht er einen Urteilsvorschlag, an den der EuGH jedoch nicht gebunden ist. Gemäß Art. 259 AEU-Vertrag kann auch ein Mitgliedstaat gegen einen anderen vor dem EuGH (nach einem Vorverfahren durch Einschaltung der Kommission, Art. 259 Abs. 2 bis 4 AEU-Vertrag) vorgehen.

6.4.1.2. Vorabentscheidungsverfahren

Die nationalen Gerichte können bzw. müssen, soweit es sich um die letzte Instanz (zum Beispiel Bundesfinanzhof, Bundesgerichtshof) handelt, dem EuGH Fragen hinsichtlich der Auslegung des Rechts der Europäischen Union vorlegen. Außerdem können sie überprüfen lassen, ob ein europäischer Gesetzgebungsakt gültig ist. Dies soll in besonderem Maße die einheitliche Anwendung des Rechts der Europäischen Union durch die nationalen Gerichte, die für dessen Durchsetzung zu sorgen haben, sicherstellen. Das nationale Gericht muss in seiner Verhandlung auf die Auslegung bzw. Gültigkeit des Rechts der Europäischen Union angewiesen sein (sie muss entscheidungserheblich sein und die Auslegung darf nicht bereits geklärt sein), um eine Frage vorlegen zu dürfen. Es unterbricht dabei sein Verfahren bis zur Antwort des EuGH. Die vorgelegte Frage wird zunächst in alle Amtssprachen übersetzt und im Amtsblatt bekanntgegeben. Dies gibt den beteiligten Parteien, sämtlichen Mitgliedstaaten und den Organen der Europäischen Union die Möglichkeit, Stellungnahmen abzugeben. Wiederum folgen i. d. R. eine mündliche Verhandlung sowie Schlussanträge des Generalanwalts, bevor es zu einem Urteilsspruch kommt. Das vorlegende Gericht (und andere Gerichte in ähnlichen Fällen) sind an das Urteil des EuGH gebunden.

6.4.2. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) ist ein auf Grundlage der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) eingerichteter Gerichtshof mit Sitz im französischen Straßburg, der Akte der Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung in Bezug auf die Verletzung der Konvention in allen Unterzeichnerstaaten überprüft. Der EMRK sind alle 47 Mitglieder des Europarats beigetreten. Daher unterstehen mit Ausnahme von Weißrussland und dem Vatikanstaat sämtliche international anerkannten europäischen Staaten einschließlich Russlands, der Türkei, Zyperns und der drei Kaukasusrepubliken Armenien, Aserbaidschan und Georgien der Jurisdiktion des EGMR. Jeder kann mit der Behauptung, von einem dieser Staaten in einem Recht aus der Konvention verletzt worden zu sein, den EGMR anrufen.(…)

Neben dem Staatenbeschwerdeverfahren und dem Gutachtenverfahren sieht die EMRK auch ein Individualbeschwerdeverfahren vor. Dieses Verfahren setzt aber zwingend die sogenannte Rechtswegerschöpfung voraus, das heißt, es muss zunächst der innerstaatliche Instanzenzug durchlaufen werden und es dürfen keine Rechtsbehelfe auf nationaler Ebene verbleiben. In Deutschland fällt darunter auch das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht.7

Die Urteile des EGMR sind für die Mitgliedstaaten bindend, sie müssen zwingend befolgt werden. Aber auch hierzu wäre ein langer Weg durch die Instanzen zu beschreiten. Ein zu langer Weg, angesichts der täglich wachsenden Ausgrenzung und Verelendung von Millionen Bürgerinnen und Bürgern. In der letzten Folgen dieser Serie werden wir deshalb außergerichtliche Wege erörtern, die die Bundesregierung zu Kurskorrekturen und damit zur Einhaltung anerkannter Rechtsnormen animieren könnte.

© Norbert Wiersbin (2013)

 

3ebenda

7Vgl.: http://de.wikipedia.org/wiki/Europ%C3%A4ischer_Gerichtshof_f%C3%BCr_Menschenrechte