Armut ist keine Kunst

Geschrieben von Dietmar Hamann. Veröffentlicht in Allgemeines

Hannover. Kommt ein Künstler zum Arzt. Sagt der Arzt: „Sie haben nur noch 14 Tage zu leben.“ Darauf antwortet der Künstler: „Wovon denn?“ Dass viele Künstler nicht von ihrer Kunst leben können, ist bekannt. Inzwischen können aber immer weniger Menschen - nicht nur Künstler - von ihrer Arbeit leben. Seit Jahren schon wächst die Kluft zwischen Arm und Reich in Deutschland, mit der Folge, dass die Reichen noch reicher und die Armen immer zahlreicher werden. Dieser gesellschaftlichen Spaltung will sich das Projekt „Armut? Das ist doch keine Kunst!“ widmen und der Frage nachgehen, wie unsere Gesellschaft mit dieser sozialen Ungerechtigkeit umgeht.

Der hannoversche Künstler Klaus-Dieter Gleitze, Mitbegründer der Künstlergruppe „Schuppen 68“ mit dem weltweit einzigen Witzverleih (siehe oben), hat das Projekt mit zahlreichen Partnern initiiert. „Die wachsende Spaltung unserer Gesellschaft ist ein Skandal, der nicht unwidersprochen hingenommen werden darf“, sagte Gleitze gestern bei der Vorstellung des Projekts. Es wird vom Diakonischen Werk der Landeskirche Hannover, dem Caritasverband der Diözese Hildesheim, der Landesarmutskonferenz Niedersachsen und dem städtischen Kulturbüro unterstützt. Weitere Beteiligte sind unter anderem Kirchengemeinden und das Karl-Lemmermann-Haus. „Es ist keine Kunst, arm zu werden, denn die Armut ist längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen“, sagte Gleitze.

Zwischen Ende Juli und Mitte November sollen Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft zusammenkommen und sich mit dem Thema Armut und soziale Benachteiligung auseinandersetzen - Künstler, Wohnungslose, Bewohner sozialer Brennpunkte, Ausstellungsbesucher - vor allem künstlerisch. Projektstart ist am 31. Juli um 19 Uhr in „Onkel Olli’s Kiosk“, An der Lutherkirche 10. Bis Ende November finden dort Lesungen, Ausstellungen und Musik der Künstlergruppe „Schuppen 68“ für Besucher und Anwohner statt.

Geplant sind außerdem Kunstprojekte in sozialen Brennpunkten und Einrichtungen für Wohnungslose, wo Profikünstler gemeinsam mit Bewohnern und Besuchern Bilder, Objekte und Aktionen produzieren. „Kann man sich von Hartz IV noch Träume leisten?“ lautet etwa der Titel eines Videoprojekts. Vom 24. Oktober bis 10. November werden die Werke zum Thema „Kunst und Armut“ in der Galerie Konnektor und im Atelier der Lindener Kunstwerke AG gezeigt.

„Die Gräben zwischen Arm und Reich werden immer tiefer, und es wird schwieriger, Brücken herzustellen. Kunst ist ein Bereich, der diese Gräben überwinden kann“, sagte Christoph Künkel, Direktor des Diakonischen Werks Hannover, das die Aktion mit 5000 Euro fördert. Das Projekt solle Menschen viel mehr zum Nachdenken anregen. „Kunst ist mehr als das Sahnehäubchen obendrauf, sondern etwas sehr Existenzielles“, meinte Propst Martin Tenge. Beide sind sich darüber im Klaren, dass das Projekt die Armutssituation der Betroffenen nicht löst, aber deren Selbstwertgefühl dadurch gestärkt wird.

Auch die Künstler wissen noch nicht, was am Ende dabei herauskommt. „Aber es gibt nichts Gutes, außer man versucht es wenigstens mal“, wandelte Gleitze das bekannte Kästner-Zitat entsprechend um. „Ich hoffe, dass es in Hannover einen richtigen künstlerischen Wirbel auslöst.“

Quelle: HAZ vom 20.7.2013