Bahnhofsmissionen, der Seismograph der Gesellschaft

Veröffentlicht in Obdachlos

Sie sind ein Seismograph der Gesellschaft, die Bahnhofsmissionen in Deutschland: Die Folgen aktueller politischer und wirtschaftlicher Entwicklungen für die Notleidenden unserer Gesellschaft spiegeln sich im Alltag der Anlaufstelle wider. Beispielsweise sind die Bahnhofsmissionen auch ein Fluchtpunkt für Menschen aus den von der Finanzkrise betroffenen Ländern: Viele dieser Bürger haben vergeblich nach einem Auskommen im reichen Deutschland gesucht. In den Räumen der Bahnhofsmissionen reichen ihnen die meist ehrenamtlich tätigen Mitarbeitenden Tee und Brote, versuchen ein Dach über dem Kopf  oder eine Rückreise in die Heimat zu organisieren - und vermitteln auf Wunsch an andere Anlaufstellen.

Thomas Beyer, Sprecher der Nationalen Armutskonferenz (nak),
zu Besuch bei der Münchner Anlaufstelle

Das haben vier Mitarbeiterinnen Thomas Beyer, Sprecher der Nationalen Armutskonferenz (nak), berichtet: Andrea Sontheim, Leiterin der katholischen Bahnhofsmission, Hedwig Gappa-Langer, Referentin der katholischen Bahnhofsmisionen des IN VIA Landesverband Bayern, Rita Schulz, Geschäftsführerin des bayerischen Landesverbands von INVIA Katholische Mädchensozialarbeit und Gabriele Ochse, Leiterin der evangelischen Bahnhofsmission (siehe Foto von links nach rechts), gaben Einblicke in die Arbeit der Bahnhofsmissionen. Beyer: „Den wenigsten Menschen dürfte bekannt sein, wie umfangreich und tiefgreifend die Arbeit der Bahnhofsmissionen längst  ist.“

„Selbstredend leisten wir nach wie vor klassische Hilfe für Reisende“, sagte Gappa-Langer. Dazu zählt die Unterstützung von älteren oder behinderten Menschen beim Ein-, Aus- und Umsteigen. Rollstuhl, Gepäckwagen und Hebebühnen stehen für diese Zwecke zur Verfügung. Auch begleiten die Mitarbeitenden Kinder, die alleine unterwegs sind.

Bei akuten Nöten – hier heißen einige Stichworte laut Webseite „Ohne Schlafplatz. Hungrig. Durstig. Bestohlen. Verletzt. Krank. Schwach.“ – sorgen die „Missionare der Bahnhöfe“ zeitnah für Abhilfe. Religionszugehörigkeit (oder auch nicht) der Betroffenen spielen dabei keine Rolle.

Vor allem aber der dritte Bereich ist es, der zunehmend an Bedeutung gewinnt: Immer mehr Menschen in prekären Situationen suchen Hilfe bei den Bahnhofsmissionen. Von mehr als 100 Menschen, die täglich in die Münchner Anlaufstelle kommen, sind viele arbeitslos, etliche wohnungslos, manche psychisch krank. Auf nicht wenige treffen gleich mehrere dieser Umstände gleichzeitig zu. Manche kommen regelmäßig, um sich aufzuwärmen. Aber auch, weil sie jemanden brauchen, der ihnen zuhört. 60 Prozent der Gäste haben laut Sontheim und Ochse einen Migrationshintergrund. Außerdem: „Uns fällt auf, dass die Zahl der jungen Menschen, die uns aufsucht, zunimmt.“

Ohne Termin ins nächste freie Büro: Offener kann ein Hilfsangebot nicht sein. In einigen Fällen zahlen die Mitarbeitenden kleinere Geldbeträge etwa für Windeln und Lebensmittel aus. Oft vermitteln sie die Hilfesuchenden an andere Anlaufstellen wie das Wohnungsamt oder Jadwiga, eine spezielle Fachberatungsstelle für weibliche Hilfesuchende, die Opfer von Frauenhandel geworden sind.

Während die  Arbeit in den Bahnhofsmissionen stetig zunimmt, fehlt es an vielen Standorten an Personal und finanziellen Mitteln. Gappa-Langer: „Längst nicht jede Bahnhofsmission kann sich Fachpersonal leisten.“ In manchen bayerischen Städten gibt es gar keine Bahnhofsmission, beispielsweise im oberfränkischen Bamberg. Dabei sind diese Anlaufstellen in Beyers Augen auch „ein Modell eines niederschwelligen Angebots für soziale Belange in der Kommune“.