Denkanstoß Nr. 19

Veröffentlicht in Obdachlos

Jannek der Pole

von Gastautor Dieter Puhl

22.00 in meiner Küche in Charlottenburg. Das war kein guter Tag, das kann kein guter Abend werden. Eine eigentümliche Mischung aus Trauer und Wut in mir. Die Wut überwiegt etwas, ich könnte gegen den Schrank treten.

Als ich vor guten 3 Jahren in der Bahnhofsmission Zoo zu arbeiten anfing, war er schon da, morgens wenn ich kam und abends wenn ich ging. Jeden Tag. Immer. Meist blieb er draußen, selten kam er herein, stand immer vor der Tür, solange er konnte. Im letzten Jahr lag er da mehr. Essen erhielt er von uns, Bekleidung, suchte den Schutz vor der Tür, das Gespräch, auch Nähe. War immer freundlich, sein spitzbübisches Lächeln hatte Charme. Es sind die Augen, bei einigen strahlen sie, seine funkelten. Er hatte immer gute Laune, machte immer Späßchen. Wenn er nüchtern war, verstand ich sie, betrunken nuschelte oder lallte er doch sehr. Betrunken war er übrigens oft. Obdachlos, mittellos – aber irgendjemand hatte immer Geld, für ein Tetrapack Glühwein, 1,29.- der Liter bei Ullrich, an besseren Tagen auch Sangria oder Wodka. Die besseren Tage waren selten, der Rausch vermutlich ähnlich. Da saßen sie, Klaus, Kathi, Tommy, Jimmy, andere – und eben Jannek.

Jannek der Pole, nicht abwertend gemeint, eher ein Pole, der geschätzt wurde, von vielen, eigentlich von allen. Klaus, Klaus der Franke, starb im letzten Jahr mit 38 Jahren auf der Straße, Alkohol und Drogen und das harte Leben so, kein außergewöhnlich junger Tod. Wir brachten ein Bändchen für ihn an unserem Abschiedsbaum vor der Tür an, in den bayerischen Farben.

Und Jannek baute langsam ab, schleichend, kaum zu merken. Plötzlich konnte er kaum noch laufen, saß nur noch herum, auch nicht mehr vor unserer Tür, aber einige Meter entfernt am Anfang der Jebensstraße. Die Lüftungsschächte der U Bahn wurden sein Stammplatz, die warme Luft von unten wärmte. Vermutlich nicht nur seinen Körper, auch seine Seele wurde so wohl gelegentlich gestreichelt. Und sonst gab es ja auch noch die Wärme des Alkohols.

„Was wollen die hier in Berlin, die Polen, die Osteuropäer? Warum bleiben sie nicht zuhause?“, wurde ich gestern auf einer Diskussionsveranstaltung gefragt.

„In Ruhe sterben“ hätte ich heute geantwortet.

Geholfen wird ihnen, auch vielen wohnungslosen Deutschen übrigens leider noch oft zu wenig. Ziemlich gutes Hilfenetz in Berlin, „das wohl beste in Europa. Notübernachtungen, Kältebusse, Streetworker, Wohnprojekte und die Bahnhofsmission gibt es woanders nicht“, sage ich doch oft selbst.

Aber so ist das mit Netzen, sie haben Lücken. Die wohl größte Lücke ist der Zeitfaktor, reparieren sie mal ein Auto mit Totalschaden in einer Stunde. Und ein Sozialarbeiter, der mehr Zeit hat, ist fast ein Sechser im Lotto. Denn Zeit kostet Geld – und Geld ist kaum vorhanden!

„Ihnen fehlt der professionelle Abstand“, höre ich jetzt etliche sagen. Richtig. Heute, nach diesem Tag, an diesem Abend möchte ich das aber auch bitte so.

Jannek ist verfault, erfrorene, eiterige, wunde Füße, ein offener Po, Auswirkung seiner Inkontinenz, Läuse und die Krätze und andere Hautkrankheiten, er löste sich langsam auf. Sein Körper zersetzte sich einfach vor seinem Tod, verkehrte Zeitfolge, man sah es manchmal, ihm setzte das zu.

Und so wurden die Schritte in seinem Bereich immer schneller, das hält doch niemand aus, da will doch niemand hin- und zusehen.

Ich auch nicht.

Deshalb die Wut. Etwas gegen die Systeme, viel aber auch gegen mich. Bin ich der Leiter der Bahnhofsmission Zoo oder nicht?! Die Welt retten können und wollen wir, ich, doch gar nicht. Das Sterben direkt vor unserer Tür zu verhindern, wäre doch aber ein hübscher Anfang.

Am 22. Januar wurde er in ein Krankenhaus eingeliefert, das war nicht leicht, am 23. Januar verstarb er. Die Lunge. Nicht nur äußere Schäden.

Wir werden für Jannek ein Bändchen am Baum anbringen in den polnischen Farben, unser Pfarrer wird zu einer kleinen Trauerfeier einladen, das macht er richtig gut, „Sacrifice“ von Sinead O`Connor, Leberwurstbrote, Jimmy, Kathi und andere Weggefährten. Es werden Tränen fließen. Ob sie trösten, ob Jesus das tut? Schauen wir mal. Alles sollte man ihm aber auch nicht überlassen.

Am 1. April starten wir, die Berliner Stadtmission hat das heute entschieden, weil Spender es ermöglicht haben, mit dem Projekt der Mobilen Einzelfallhelfer: Fachkollegen gehen auf die Straße, kümmern sich um die, die wir aufgegeben haben, die, die sich auflösen. Sie haben einen Luxus im Gepäck. Zeit für den Einzelnen. Wir vertrauen und wissen, das hilft! Nicht immer, nicht jedem aber sehr oft und vielen.

Leider zu spät für Klaus und Jannek.