Neue Regelungen zu Hartz-IV-Sätzen: in wesentlichen Punkten verfassungsrechtliche Probleme

Veröffentlicht in Arbeitsmarktlage

Neues Gutachten

Neue Regelungen zu Hartz-IV-Sätzen: in wesentlichen Punkten verfassungsrechtliche Probleme

Die neuen Regeln zur Bestimmung des Hartz-IV-Satzes verstoßen in wesentlichen Punkten gegen verfassungsrechtliche Vorgaben, so ein neues Rechtsgutachten im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung.

Das Gesetz "zur Ermittlung von Regelbedarfen" vom März 2011 justiert das Verfahren neu, mit dem der Hartz-IV-Regelsatz ermittelt wird. Das Prinzip dabei: Die Höhe richtet sich nach den Durchschnittsausgaben einkommensschwacher und nicht von Grundsicherung oder Sozialhilfe lebender Haushalte. Die Daten werden anhand der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) des Statistischen Bundesamtes erhoben.

Im Grundsatz sei es verfassungsrechtlich legitim, das sozialrechtliche Existenzminimum mithilfe dieser so genannten Statistik-Methode zu ermitteln, schreibt Prof. Dr. Johannes Münder, Rechtswissenschaftler an der TU Berlin, in einem aktuellen Gutachten für die Hans-Böckler-Stiftung.* Allerdings kollidierten die Regelungen in vielen wesentlichen Einzelpunkten mit dem Grundgesetz. Münder bezieht sich in seiner Untersuchung auf eine Studie der Verteilungsforscherin Dr. Irene Becker, die ebenfalls für die Hans-Böckler-Stiftung die Methodik der Regelsatzberechnung durchleuchtet hat.**

Insgesamt identifizieren die Wissenschaftler zehn Aspekte, die das neue Verfahren verfassungsrechtlich problematisch machen. Die wichtigsten Punkte:

* Die Vergleichsgruppe ist falsch abgegrenzt, weil die verdeckte Armut nicht herausgerechnet wurde. Als Maßstab zur Regelsatzberechnung sollen Haushalte dienen, die zwar ein geringes Einkommen haben, aber nicht solche, deren Einkünfte unterhalb des Existenzminimums liegen - etwa weil sie die ihnen zustehenden Sozialleistungen nicht ausschöpfen. Dazu wäre es nötig, diese in "verdeckter Armut" lebenden Haushalte aus der Referenzgruppe herauszunehmen. Obwohl geeignete statistische Verfahren zur Verfügung stehen, sei dies aber nicht geschehen, stellen Münder und Becker fest. Damit ergeben sich systematisch zu niedrige Regelsätze.

* Aufwandsentschädigung: Sehr geringe Erwerbseinkommen verzerren Daten. Wer im Wesentlichen von Sozialleistungen lebt und bis zu 73 Euro netto im Monat verdient, müsste dem Gutachten zufolge ebenfalls aus der Referenzgruppe ausgeschlossen werden. Denn dieser Betrag sei nicht als frei verfügbares Einkommen, sondern als Kompensation für Aufwendungen zu interpretieren, die durch eine Erwerbsarbeit entstehen. Hier verheddere sich der Gesetzgeber in Widersprüche, indem er den Betrag von 73 Euro, den er Erwerbsfähigen im Gegensatz zu Erwerbsunfähigen zubilligt, bei der Regelsatzermittlung ignoriert, so Münder. Unter anderem seien die Gebote der Systemklarheit, der Folgerichtigkeit und der Normenklarheit verletzt.

* Wie hoch der Finanzbedarf für langlebige Gebrauchsgüter ist, lässt sich aus der verwendeten Statistik nicht ablesen. Für die EVS zeichnen die Haushalte in der Stichprobe drei Monate lang auf, wofür sie Geld ausgeben. Daraus ergibt sich ein relativ verlässliches Bild der täglichen Ausgaben. Allerdings würden einmalige, nur in großen Abständen erfolgende Anschaffungen wie Fahrräder, Kühlschränke oder Fernseher nicht hinreichend erfasst, so Münder. Daher sei unsicher, ob das vom Grundgesetz geforderte menschenwürdige Existenzminimum mit der verwendeten Berechnungsmethode sichergestellt sei. Die Verteilungsforscherin Becker schlägt vor, Bedürftigen anstelle von Pauschalbeträgen einmalige Leistungen für größere Gebrauchsgüter zu gewähren.

* Die Einstufung bestimmter Konsumausgaben der Vergleichsgruppe als "nicht regelsatzrelevant" führt zu einer Unterschätzung des Existenzminimums. Verfassungsrechtlich problematisch ist nach Überzeugung der Wissenschaftler auch eine fundamentale methodische Inkonsistenz beim neuen Verfahren: Das Statistik-Modell geht von durchschnittlichen Ausgaben aus, nicht vom individuellen Ausgabeverhalten. Zugleich greift der Gesetzgeber mit normativen Begründungen in das statistisch ermittelte Ergebnis ein, indem er bestimmte Positionen für "nicht regelsatzrelevant" erklärt. Das gilt nicht nur für Alkohol und Tabak, sondern etwa auch für Gartengeräte, chemische Reinigung oder Hundefutter. Damit kommt es zu einer Vermischung des Statistik-Verfahrens und des früher üblichen Warenkorbmodells, bei dem die Höhe der Sozialhilfe komplett auf normativen Setzungen fußte. Münder und Becker zufolge wird das Statistik-Modell auf diese Weise "ausgehöhlt", indem die Möglichkeiten der Bedürftigen eingeschränkt werden, einen "internen Ausgleich" zwischen Warenkategorien vorzunehmen. Das kann zu einer Unterschätzung des tatsächlichen Haushaltsbedarfs führen.

Ein Beispiel: Wenn die Referenzhaushalte im Schnitt acht Euro im Monat für Zigaretten ausgeben, bedeutet das keineswegs, dass in allen Haushalten geraucht wird. Tatsächlich hat ein großer Teil der Haushalte überhaupt keine Ausgaben für Tabakwaren - dafür aber etwa höhere Ausgaben für Lebensmittel als die Gruppe der Raucher. Wird das Existenzminimum nun mit Verweis auf die Raucher um acht Euro niedriger angesetzt, haben darunter alle Haushalte zu leiden, auch die Nichtraucher mit überdurchschnittlichem Nahrungsbedarf. Aufgrund solcher Überlegungen dürfe der Gesetzgeber nur in begrenztem Umfang normativ begründete Abschläge von den tatsächlichen Durchschnittsausgaben vornehmen, schreibt Münder. Insgesamt betragen die verschiedenen Abzüge nach Becker aber rund ein Drittel der statistisch ermittelten Ausgaben. So sei nach Ansicht beider Gutachter keine Existenzsicherung mehr gewährleistet.

* Der herunter gerechnete Mobilitätsbedarf Bedürftiger ist nicht nachvollziehbar. Einzelnen Schritten bei der Bedarfsermittlung attestieren die Untersuchungen handwerkliche Mängel. Besonders fragwürdig scheint Münder und Becker die Berechnung des Mobilitätsbedarfs: Hier gehen statistisch ermittelte Ausgaben für Benzin nicht in die Rechnung ein, weil das Existenzminimum auch ohne Auto oder Motorrad erreicht werde. Selbst wenn man diese Sicht akzeptiert, müsste aber eine realistische Betrachtung berücksichtigen, dass die Referenzgruppe bei Wegfall der KFZ-Nutzung höhere Ausgaben für öffentliche Verkehrsmittel gehabt hätte. Allein durch die Missachtung dieses Punkts falle der aktuelle Hartz-IV-Regelsatz um knapp sechs Euro zu niedrig aus.

* Die kulturelle Teilhabe Minderjähriger ist nicht für alle Kinder sichergestellt. Anstelle der per EVS ermittelten Beträge für Vereinsmitgliedschaften oder Ähnliches gesteht der Gesetzgeber Minderjährigen eine zweckgebundene Pauschale von 10 Euro im Monat für Mitgliedsbeiträge von Sportvereinen, Musikunterricht oder Freizeiten zu. Diese ist nicht Bestandteil der monetären Regelleistung, sondern des sogenannten Bildungspakets. Verfassungsrechtlich problematisch sind daran laut Münder vor allem zwei Aspekte: Zum einen kollidiert der eng umrissene Verwendungszweck mit dem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit - Kinder können ganz andere soziale und kulturelle Interessen haben. Zum anderen gehen Kinder leer aus, in deren Wohnumfeld keine entsprechenden Sport- oder Musikangebote existieren. Sie haben unter der Streichung der entsprechenden Position bei der Regelsatzberechnung zu leiden, können die vorgesehene Kompensation aber nicht in Anspruch nehmen.

* Der jüngste Inflationsausgleich erfolgte zu spät. Grundsätzlich sei die Regelung vertretbar, den Hartz-IV-Satz zum ersten Januar an die Teuerungsrate anzupassen, die sich in den zwölf Monaten bis zur Mitte des Vorjahres ergeben haben, so das Gutachten. Bei der jüngsten Anhebung seien aber - trotz vorhandener Daten - die Preissteigerungen des ersten Halbjahres 2010 nicht berücksichtigt worden. Mit dieser Abweichung vom üblichen Prozedere habe der Gesetzgeber seine Pflicht missachtet, das menschenwürdige Existenzminimum "bedarfszeitraumnah" zu bestimmen.

*Johannes Münder: Verfassungsrechtliche Bewertung des Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 24.03.2011 - BGBl. I S. 453, Gutachten für die Hans-Böckler-Stiftung, August 2011

**Irene Becker: Bewertung der Neuregelungen des SGB II. Methodische Gesichtspunkte der Bedarfsbemessung vor dem Hintergrund des "Hartz IV-Urteils" des BVerfG, Gutachten für die Hans-Böckler-Stiftung, August 2011

Die Gutachten in einer Sonderausgabe der Zeitschrift "Soziale Sicherheit":
http://www.boeckler.de/pdf/pm_wsi_2011_09_05.pdf

Ansprechpartner in der Hans-Böckler-Stiftung

Dr. Claus Schäfer
Leiter WSI
Tel.: 0211-7778-205
E-Mail: Claus-Schä Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

Rainer Jung
Leiter Pressestelle
Tel.: 0211-7778-150
E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

Hartz-IV-Regelsatz: Was der Mensch braucht

Veröffentlicht in Arbeitsmarktlage

Eine empirische Analyse von Lutz Hausstein

Nachdem der Regelsatz beim ALG II zum 1.1.2011 um ganze fünf Euro angehoben wurde und er damit nach Ansicht vieler Kritiker weiterhin deutlich zu niedrig liegt, legt Lutz Hausstein nun, wie bereits im letzten Jahr, eine neue, ausführliche Bedarfsermittlung vor. Wie auch andere Berechnungen, beispielsweise die des Bündnisses für einen 500-Euro-Eckregelsatz, kommt Hausstein zu dem Ergebnis, daß der aktuelle Regelsatz nicht den tatsächlichen Bedarf deckt und somit den verfassungsmäßigen Vorgaben nicht entspricht. Die Weiterverbreitung unter CC 3.0 de (BY-NC) ist vom Autor ausdrücklich erwünscht und die Untersuchung steht hier auch als PDF-Datei zum Download zur Verfügung.


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WAS DER MENSCH BRAUCHT – 2011

Empirische Analyse zur Höhe einer sozialen Mindestsicherung

auf der Basis regionalstatistischer Preisdaten

Stand: März 2011

- Lutz Hausstein -

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INHALTSVERZEICHNIS

I. Vorbemerkungen: 3

II. Grundlagen der Berechnung: 4

III. Grundannahmen: 5

IV. Bedarfsermittlung: 6

V. Erläuterungen einzelner Positionen: 10

  • A. Reis, Kartoffeln, Eierteigwaren: 10
  • B. Obst und Gemüse: 10
  • C. Alkoholika, Tabakwaren: 10
  • D. Zusatzbeitrag Krankenversicherung: 10
  • E. Waschmaschine: 10
  • F. Computer, Monitor, Drucker: 10
  • G. Transportpauschale: 10
  • H. Geschirr: 10
  • I. Telefonanschluss, -gebühren, Internetanschluss, -gebühren: 10
  • J. Mitgliedsbeitrag Sportverein: 10
  • K. Monatskarte Nahverkehr: 11
  • L. Reparaturen: 11
  • M. Strom: 11
  • N. Privat-Haftpflicht- sowie Hausrat-Versicherung: 11
  • O. Eigenanteil Wohnungsinstandhaltung: 11

VI. Auswertung: 12

VII. Bewertung: 13

VIII. Schlussfolgerungen: 14

(-2-)
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I. Vorbemerkungen:

Das Jahr 2005 stellte im Zuge der endgültigen Einführung der Hartz-Gesetze nicht nur für die deutsche Sozialgesetzgebung, sondern auch für den Arbeitsmarkt in der Bundesrepublik eine tiefgreifende Zäsur dar. Denn der durch die Pauschalierung der Sozialleistungen neue, in der Summe geringere, Betrag kennzeichnet de facto eine Lohngrenze, der sich seitdem in vielen Wirtschaftsbereichen kontinuierlich von oben genähert wird. Somit ist die Höhe der Sozialleistungen nicht nur für die direkt Betroffenen von fundamentaler Bedeutung, sondern auch für die unter dem zunehmenden Lohndumping leidenden Beschäftigten. Dies wird auch durch die Anzahl der von Grundsicherung Abhängigen (Stand Februar 2011: 6,5 Mio.) gegenüber der Anzahl der in der offiziellen Arbeitslosenstatistik Ausgewiesenen (Stand Februar 2011: 3,3 Mio.) besonders deutlich.

Eine gerechte Gestaltung der Sozialgesetzgebung, auch bezüglich der Höhe der Leistungen, betrifft also nicht nur alle in der Statistik aufgeführten Arbeitslosen. Sie geht auch über die darin nicht mehr enthaltenen Personen hinaus, welche wegen permanent ausgeweiteten Kriterien wie absolvierter Weiterbildung, vorübergehender Krankheit, Ein-Euro-Job, eines Alters über 58 Jahren oder anderen Merkmalen als „nicht arbeitslos“ statistisch entfernt werden. Sie hat ebensolche Bedeutung für Millionen von Rentern, Kindern, aber auch Arbeitnehmern, die in rasant wachsender Zahl in prekären Arbeitsverhältnissen wie unfreiwilliger Teilzeitarbeit, Leiharbeit oder Niedriglohnbeschäftigung um ihr Dasein kämpfen müssen.

Die nachfolgende Untersuchung versteht sich unter diesen Gesichtspunkten als eine Analyse zur Ermittlung einer sozialen Mindestsicherung im Sinne einer unter sozialstaatlichen Kriterien nicht unterschreitbaren Grenze. Sie besitzt somit für alle in der Bundesrepublik wohnhaften Personen, welche mangels eigenem oder unzureichendem eigenen Einkommen auf soziale Sicherungsleistungen angewiesen sind, signifikanten Charakter.

Gegenstand dieser Untersuchung ist ausschließlich die Höhe der sozialen Mindestsicherung sowie deren Zustandekommen. Weitere angrenzende kritikfähige Themenfelder wie Praxis der Arbeitsvermittlung, Rechtseinschränkungen für ALG-II-Empfänger, die Konstruktion sogenannter Bedarfsgemeinschaften bleiben hierbei ebenso unberücksichtigt wie die direkt in die Höhe der Mindestsicherung eingreifende Sanktionierungspraxis. Die Betrachtung möglicher Einschränkungen bzgl. Art.11, Art.12, Art.13 GG sowie der Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen bedürfen einer separaten Untersuchung. Leitgegenstand dieser Untersuchung ist ausschließlich die Frage:

„Wieviel braucht ein Mensch in der Bundesrepublik Deutschland zum Zeitpunkt der Untersuchung zum Leben und damit zur Wahrung seiner grundgesetzlichen Rechte nach Art.1, Art.2 sowie Art.3?“

(-3-)
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Bekämpfung von Erwerbsarmut und Arbeitsmarktsegmentierung in der EU: stärkere Sensibilisierung, Ausbau der Daten, besseres Monitoring und stärkeres Mainstreaming

Veröffentlicht in Arbeitsmarktlage

Am 3. Oktober 2008 verabschiedete die Europäische Kommission eine Empfehlung (2008/867/EG) zur aktiven Eingliederung der aus dem Arbeitsmarkt ausgegrenzten Personen. Meist wird davon ausgegangen, dass das wirksamste Mittel zur Bekämpfung von Armut darin besteht, arbeitslosen und nicht erwerbstätigen Menschen einen Arbeitsplatz zu verschaffen. Einen Arbeitsplatz zu haben, ist jedoch keine Garantie, der Armut zu entkommen, und arbeitende Arme stellen einen erheblichen Teil all derjenigen, die in Europa in Armut leben. Maßnahmen zur Bekämpfung von Erwerbsarmut und Behebung der Arbeitsmarktsegmentierung sind daher wichtig und werden im Arbeitsmarktpfeiler der Empfehlung ausdrücklich genannt.

2009 lagen 8,4 % der Erwerbstätigen in der EU unterhalb der Armutsrisikoschwelle. Anders ausgedrückt: Von den 81 Millionen Einkommensarmen in der EU sind 17 Millionen in Wirklichkeit erwerbstätig. Auch wenn zwischen den einzelnen Ländern große Unterschiede bestehen, zeigt sich im Gesamtbild das Ausmaß der Erwerbsarmut und, in Verbindung mit den Auswirkungen der Wirtschaftskrise, die Notwendigkeit, die Arbeitsmarktsegmentierung, die überall in Europa zu Erwerbsarmut führt, zu beheben.

Ein neuer Bericht über Erwerbsarmut und Arbeitsmarktsegmentierung, der auf Länderberichten der Mitglieder des EU-Netzwerks unabhängiger ExpertInnen im Bereich soziale Eingliederung basiert, kommt zu dem Ergebnis, dass die meisten Länder dem Thema trotz seiner offenkundigen Bedeutung keinerlei spezielle Aufmerksamkeit, weder in politischen Debatten noch in der akademischen Forschung, widmen. Es besteht die Tendenz, sich ausschließlich auf Maßnahmen zur Aufrechterhaltung und Schaffung von Arbeitsplätzen zu konzentrieren, ohne gleichzeitig das Thema der Niedriglöhne und der Erwerbsarmut anzugehen.

Aus dem vom Kernteam des Netzwerks erstellten Überblick über die ExpertInnenberichte geht hervor, dass vier Schwerpunktbereiche vorangetrieben werden müssen: stärkere Sensibilisierung der Öffentlichkeit und Anhebung des politischen Stellenwerts, Ausbau der Daten und Analysen, Verbesserung des Monitoring und der Berichterstattung sowie systematische Einbeziehung sozialer Eingliederungsziele in wirtschaftsund beschäftigungspolitische Strategien.

 

Was die hauptsächlichen Ursachen von Erwerbsarmut betrifft, so lenkt der Bericht des Kernteams die Aufmerksamkeit auf strukturelle Faktoren der Wirtschaft/des Arbeitsmarktes (qualitativ schlechte Arbeitsplätze, geringe Aufwärtsmobilität, prekäre oder schlecht bezahlte Arbeitsplätze usw.), die Bedeutung von Familien /Haushaltszusammensetzung und geringer Erwerbsintensität (wenn Personen mit Fürsorgepflichten nur eine beschränkte Zahl von Arbeitsstunden leisten können, werden dadurch zum Beispiel ihre Verdienstmöglichkeiten eingeschränkt), individuelle Merkmale (die Wahrscheinlichkeit von Erwerbsarmut ist unter jungen Menschen, ausländischen ArbeitnehmerInnen und weniger gut ausgebildeten Menschen höher) und institutionelle Faktoren (z. B. relativ hohe Steuern für GeringverdienerInnen). Die politischen Gegenmaßnahmen sind in den verschiedenen Mitgliedstaaten unterschiedlich, können insgesamt jedoch in zwei Gruppen eingeteilt werden: erstens Maßnahmen, die auf eine Anhebung der Niedriglöhne abzielen, und zweitens Maßnahmen, die eine Steigerung der Erwerbsintensität und eine Reduzierung der Arbeitsmarktsegmentierung verfolgen. Es besteht die Notwendigkeit, ganzheitliche politische Strategien zu entwickeln, die den mehrdimensionalen Charakter der Probleme berücksichtigen, die zu Erwerbsarmut führen.

Was die Ursachen der Arbeitsmarktsegmentierung betrifft, so weist der Bericht des Kernteams auf drei Faktoren hin, die in diesem Zusammenhang eine Rolle spielen: Ausbeutung und Diskriminierung, Förderung unsicherer Beschäftigungsverhältnisse und irregulärer Arbeit sowie niedrige Bildungs- und Qualifikationsniveaus. Dem Bericht zufolge ist es notwendig, Politikmaßnahmen zu entwickeln, die Weiterbeschäftigung und berufliches Weiterkommen, bessere Arbeitsbedingungen und arbeitnehmerInnenfreundliche Flexibilität, lebensbegleitendes Lernen – vor allem spezielle innerbetriebliche Maßnahmen für gering Qualifizierte – sowie Nichtdiskriminierung und eine integrative Arbeitsumgebung fördern.

Der Überblick enthält zwölf konkrete Vorschläge für Verbesserungen, darunter folgende:

Stärkere Sensibilisierung der Öffentlichkeit und Anhebung des politischen Stellenwerts

Erwerbsarmut sollte zu einem zentralen Thema der Europäischen Plattform gegen Armut gemacht werden, um zu gewährleisten, dass sie in künftigen Maßnahmen zur Förderung der aktiven Eingliederung (unter anderem bei der Erarbeitung von Kriterien für ein angemessenes Mindesteinkommen) und auch bei den Arbeiten zum Thema Kinderarmut und Wohlergehen von Kindern berücksichtigt wird. Sie zu einem obligatorischen Schwerpunkt der nationalen Reformprogramme (NRP) zu machen, würde gewährleisten, dass ihr in der Strategie Europa 2020 mehr Aufmerksamkeit gewidmet wird.

Ausbau der Daten und Analysen

Der EU-Ausschuss für Sozialschutz und seine Untergruppe „Indikatoren“ könnten zusammen mit Eurostat (dem Statistischen Amt der EU) und dem EU-Beschäftigungsausschuss (EMCO) Indikatoren/ Daten entwickeln, um Niedrigentlohnung zu überwachen, und weitere Untersuchungen auf diesem Gebiet zu unterstützen. Sie könnten darüber hinaus Stammdaten um Informationen über Dynamik und Dauer ergänzen. Dieselben Stellen könnten auch nach Möglichkeiten suchen, die Aktualität der Daten zu Erwerbsarmut und Arbeitsmarktsegmentierung zu verbessern und die verschiedenen Subpopulationen, die diesem Zusammenhang genauer beobachtet werden müssen, besser zu erfassen. Am besten wäre dies durch eine Kombination verschiedener statistischer Instrumente zu erreichen, die sowohl Befragungsdaten als auch administrative Daten und Registerdaten einbeziehen.

Verbesserung des Monitoring und der Berichterstattung

Im Zusammenhang mit der laufenden Umsetzung der Empfehlung der Europäischen Kommission zur aktiven Eingliederung und der jährlichen Berichterstattung, die im Rahmen der Europäischen Plattform gegen Armut vorgesehen ist, könnten die Kommission und der Ausschuss für Sozialschutz einen Teil ihres gemeinsamen Berichts an die Frühjahrstagung des Europäischen Rates speziell den Fortschritten bei der Bekämpfung der Erwerbsarmut und Arbeitsmarktsegmentierung widmen. Bei der Beobachtung der sozialen Auswirkungen der Wirtschafts- und Finanzkrise und der Maßnahmen, mit denen die Mitgliedstaaten auf die Krise reagieren, könnte ein stärkeres Augenmerk auf Erwerbsarmut und Arbeitsmarktsegmentierung gelegt werden.

Stärkeres Mainstreaming sozialer Eingliederungsziele

Im Rahmen der Bemühungen um eine systematische Berücksichtigung sozialer Eingliederungsziele in allen Politikbereichen – sowohl auf der Ebene der EU als auch auf nationaler und subnationaler Ebene – und um größere Synergien zwischen wirtschafts, beschäftigungs- und sozialpolitischen Maßnahmen zu gewährleisten, sollte den Themen Erwerbsarmut und Arbeitsmarktsegmentierung hohe Priorität eingeräumt werden.

Die EU-Strukturfonds könnten weitaus stärker eingesetzt werden, um die Bemühungen der Mitgliedstaaten zur Bekämpfung von Erwerbsarmut und Arbeitsmarktsegmentierung systematisch zu unterstützen. Dies wäre ein wichtiges Instrument, um zu gewährleisten, dass die sozialen Eingliederungsziele der EU bei der Bereitstellung von Strukturfondsmitteln durchwegs berücksichtigt werden.

Die EU-Definition von Erwerbsarmut, die im Rahmen der Offenen Methode der Koordinierung für Sozialschutz und soziale Eingliederung und der Europäischen Beschäftigungsstrategie verwendet wird, lautet: „Personen, die als erwerbstätig* (wobei zwischen „abhängiger Erwerbstätigkeit plus selbständiger Erwerbstätigkeit“ und „abhängiger Erwerbstätigkeit“ unterschieden wird) eingestuft und von Armut bedroht sind**.“ Auch wenn die beiden Begriffe natürlich miteinander zusammenhängen, sollte „Erwerbsarmut“ daher nicht mit „Niedriglohn“ verwechselt werden.

* Personen, die nach ihrem Haupterwerbsstatus als erwerbstätig eingestuft sind; als Haupterwerbsstatus gilt der Status, den die Personen eigenen Angaben zufolge über mehr als die Hälfte der Monate des Einkommensbezugsjahres innehatten; ** Die Armutsrisikoschwelle beträgt 60 % des mittleren nationalen Haushaltsäquivalenzeinkommens.

Der Begriff „Arbeitsmarktsegmentierung“ wird im pragmatischen Sinn verwendet, um Unterschiede in den Arbeitsbedingungen aufgrund der Einordnung unterschiedlicher sozioökonomischer Gruppen in eine gegebene Arbeitsplatzstruktur zu beschreiben, die zu einer ungleichen Verteilung von Risiken führt.

http://www.peer-review-social-inclusion. eu/politikbegutachtung/2010/second-semester- 2010-de?set_language=de

Große Koalition will effektive Höhe des Mindestlohns auf viele Jahre einfrieren - Bundesweit Widerstand gegen die 8,50-Euro-Mogel-Packung

Geschrieben von Dietmar Hamann. Veröffentlicht in Lohnpolitik

Pressemitteilung des Kampagnenrats für 10 Euro lohnsteuerfreien Mindestlohn und 500 Euro Hartz-IV-Eckregelsatz - 29.04.2014

Die Große Koalition plant mit ihrem Gesetzentwurf für 8,50 Euro Mindestlohn eine Mogelpackung. Die bundesweiten Erwerbslosen- und Sozialproteste lassen das nicht unbeantwortet. Schon jetzt sind Aktionen in fast 50 Städten, teilweise mit Unterstützung der Partei DIE LINKE vor Ort, geplant. Präsenz beim 1. Mai der Gewerkschaften bildet nur den Auftakt zum Aktionsmonat.

Anfang Juli soll der deutsche Bundestag nach bisherigen Planungen des Arbeitsministeriums einen gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro beschließen. In seiner realen Höhe soll der Mindestlohn effektiv auf viele Jahre eingefroren werden.

„Schon heutzutage wären mindestens 10 Euro brutto notwendig, damit wenigstens ein in Vollzeit beschäftigter Alleinstehender nicht mit Hartz IV aufstocken muss. Das wäre mit 8,50 Euro ab einer Warmmiete von 358 Euro der Fall“, erläutert Frank Jäger vom Erwerbslosenverein Tacheles e.V. „Die von uns geforderte Marke von 10 Euro brutto würde aber erst etwa 2026 erreicht, weil die im Gesetzentwurf festgeschriebenen Mechanismen mit einer Mindestlohnkommission mit Arbeitgeberbeteiligung die Lohnentwicklung entsprechend hemmen werden. Im Jahr 2026 hätten 10 Euro aber nur noch eine Kaufkraft von 8,50 Euro oder weniger.“

Angesichts der gerade veröffentlichten Studie des Paritätischen Gesamtverbandes, nach der die Kluft zwischen Arm und Reich in Deutschland immer größer wird, sind die Pläne der Bundesregierung nicht hinnehmbar.

Durch Aufklärung der Bevölkerung wollen die Sozialproteste den Druck auf die Parteien im Bundestag erhöhen. Wenn die Regierung das Existenzminimum der Bevölkerung respektieren würde, dann würde sie einen lohnsteuerbefreiten gesetzlichen Mindestlohn von mindestens 10 Euro und einen Hartz-IV-Eckregelsatz von 500 statt 391 Euro einführen.

Informationen zu den Aktionen finden Sie unter

www.die-soziale-bewegung.de/2014/05_aktionsmonat


Der Kampagnenrat der Bündnisplattform für 10 Euro lohnsteuerfreien Mindestlohn und 500 Euro Eckregelsatz gründete sich im Jahr 2009. Die Bündnisplattform kämpft dafür, dass weder das Existenzminimum von Erwerbslosen noch das der Erwerbstätigen weiterhin unterschritten wird. Sie wird durch mehr als 150 Organisationen unterstützt, darunter Erwerbslosenorganisationen, Gliederungen von Gewerkschaften bis zur Landesebene, Attac Deutschland und die Partei DIE LINKE.

Dem Kampagnenrat gehören folgende Erwerbslosen- und Sozialprotestorganisationen an:
Erwerbslosen Forum Deutschland, Tacheles e.V., KLARtext e.V., Rhein-Main-Bündnis gegen Sozialabbau und Billiglöhne, Soziale Bewegung Land Brandenburg (SBB) und das Aktionsbündnis Sozialproteste (ABSP).

Quelle: http://tacheles-sozialhilfe.de

UDE: Billigarbeit kommt teuer zu stehen

Geschrieben von Claudia Braczko . Veröffentlicht in Lohnpolitik

„Mit Billigarbeit wird die deutsche Wirtschaft im internationalen Innovationswettbewerb nicht bestehen können“, warnt Prof. Dr. Gerhard Bosch vom Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) der Universität Duisburg-Essen (UDE). Fast jeder fünfte Beschäftigte (2010: 23,1 Prozent) wird schlecht bezahlt. „Den Fachkräftemangel der kommenden Jahre werden wir nur mit einer anderen Arbeitsmarktordnung bewältigen können“, plädiert der Arbeitsmarktexperte.

In einer aktuellen Expertise für die IG Metall belegt Bosch, dass die Spaltung des Arbeitsmarktes besorgniserregend zugenommen hat. 6,8 Millionen Menschen arbeiteten 2010 für weniger als 8,50 Euro pro Stunde, 4,1 Millionen verdienten sogar weniger als 7 Euro. Politische Hoffnungen, die mit der Verbreitung prekärer Arbeit verbunden waren, haben sich nicht erfüllt: Niedriglöhne, Minijobs und Leiharbeit bieten kein Sprungbrett in reguläre Arbeit, da die Aufstiegschancen fehlen. Auch die Beschäftigung gering Qualifizierter wurde nicht besser. Außerdem können heute mehr als 80 Prozent der Geringverdiener eine berufliche oder akademische Ausbildung vorweisen. „Es erwies sich als großer Irrtum in der Agenda 2010, ein Bildungsproblem in ein Lohnproblem umzudeuten“, kritisiert Bosch.

Billige Arbeit wird aber für den Steuerzahler sehr kostspielig. Allein 2010 mussten 11,5 Milliarden Euro aufgebracht werden, um nicht ausreichende Einkommen durch Arbeitslosengeld aufzustocken. Da viele Renten unterhalb der Grundsicherung im Alter bleiben, werden Gegenwartsprobleme auf Kosten der Jüngeren in die Zukunft verschoben.

Steigender globaler Wettbewerb und technischer Fortschritt können nach Ansicht Boschs die zunehmende Spaltung des Arbeitsmarktes nicht erklären. Andere Länder wie Dänemark oder Schweden sind davon ebenso betroffen, ohne dass dort die Ungleichheit zugenommen habe.

Ursachen für den starken Anstieg prekärer Arbeit in Deutschland sieht Bosch u.a. in dem freiwilligen Tarifsystem, das den deutschen Arbeitsmarkt für Lohndumping besonders anfällig macht, da es keinen gesetzlichen Mindestlohn oder allgemeinverbindliche Tarifverträge gibt. „Findige Unternehmer nutzen mit hoher Kreativität alle Schlupflöcher.“ Zusätzlichen Schub gab die Agenda 2010, insbesondere weil Leiharbeit und Minijobs dereguliert wurden und die Arbeitslosenhilfe wegfiel. Zudem wirke das traditionelle deutsche Familienmodell wie ein eingebauter Deregulator: Fehlanreize über das Ehegattensplitting, die abgeleitete Krankenversicherung und Minijobs leiteten Frauen massiv in kleine Beschäftigungsverhältnisse, so der Wissenschaftler.

Die Expertise ist im Netz zu finden unter: http://www.iaq.uni-due.de/aktuell/veroeff/2012/bosch_IGMexpertise.pdf

Quelle: Jura Forum

Inflation frisst Lohnerhöhungen auf

Veröffentlicht in Lohnpolitik

Im Schlussquartal des vergangenen Jahres haben Arbeitnehmer keine Reallohnverbesserungen erfahren: Gestiegene Verbraucherpreise kompensierten die Lohnerhöhungen, wie das Statistische Bundesamt auf Grundlage endgültiger Zahlen berichtete.

Mit ihrer Aufholjagd zog die Industrie im vergangenen Jahr die Reallöhne in Deutschland insgesamt jedoch nach oben: Nominal stiegen die Entgelte der vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmer 2011 um 3,4 Prozent. Bei einer Inflationsrate von 2,3 Prozent ergab sich daraus ein durchschnittliches Reallohnplus von 1,1 Prozent. Das waren 0,1 Punkte mehr als vorläufig im Februar berichtet. Grund für den Lohnanstieg waren Sonderzahlungen sowie eine höhere Anzahl bezahlter Stunden durch weniger Kurzarbeit.

Banken und Versicherungen zahlen am besten

Im Durchschnitt verdiente jeder vollzeitbeschäftigte Arbeitnehmer im vergangenen Jahr 43.929 Euro brutto. Zwei Drittel der Beschäftigten lagen dem Amt zufolge jedoch darunter. Die höchsten Bruttojahreslöhne zahlten mit 62.823 Euro Banken und Versicherungen, die niedrigsten gab es mit 24.544 Euro im Gastgewerbe. In der Automobilindustrie erhielt ein Vollzeitbeschäftigter 2011 sogar rund 8,3 Prozent mehr Bruttogehalt als ein Jahr zuvor, so die Statistik. Darin waren aber auch gestiegene Sonderzahlungen und Entgelte für Mehrarbeit enthalten.

Im Vergleichsjahr 2010 hatte es zunächst auch noch reichlich Kurzarbeit gegeben. Im Maschinenbau gingen die Entgelte um 6,1 Prozent nach oben, in der Chemie und bei Metall um 5,2 Prozent. Reallohnverluste mussten hingegen unter anderem Beschäftigte der öffentlichen Verwaltung sowie Lehrer und Erzieher hinnehmen. Mit ihren Entgeltzuwächsen von 2,0 beziehungsweise 0,6 Prozent konnten sie die Teuerung nicht ausgleichen.

Studie: Leiharbeiter bekommen deutlich weniger

Laut einer Untersuchung des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung (RWI) im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung erhalten Zeitarbeiter auch bei gleicher Qualifikation deutlich weniger als die Mitglieder der Stammbelegschaften, Demnach verdient eine Leihkraft mit Berufsausbildung in Westdeutschland 47 Prozent und im Osten 36 Prozent weniger als ein Stammarbeiter mit gleichem Bildungsniveau.

Als Grund nennen die Autoren neben den generell niedrigeren Zeitarbeitslöhnen vor allem individuelle Merkmale wie längere Phasen von Arbeitslosigkeit, berichtet die "Frankfurter Allgemeine Zeitung".

Quelle: tagesschau.de vom 26.03.2012