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Neue Regelungen zu Hartz-IV-Sätzen: in wesentlichen Punkten verfassungsrechtliche Probleme

am . Veröffentlicht in Arbeitsmarktlage

Neues Gutachten

Neue Regelungen zu Hartz-IV-Sätzen: in wesentlichen Punkten verfassungsrechtliche Probleme

Die neuen Regeln zur Bestimmung des Hartz-IV-Satzes verstoßen in wesentlichen Punkten gegen verfassungsrechtliche Vorgaben, so ein neues Rechtsgutachten im Auftrag der Hans-Böckler-Stiftung.

Das Gesetz "zur Ermittlung von Regelbedarfen" vom März 2011 justiert das Verfahren neu, mit dem der Hartz-IV-Regelsatz ermittelt wird. Das Prinzip dabei: Die Höhe richtet sich nach den Durchschnittsausgaben einkommensschwacher und nicht von Grundsicherung oder Sozialhilfe lebender Haushalte. Die Daten werden anhand der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) des Statistischen Bundesamtes erhoben.

Im Grundsatz sei es verfassungsrechtlich legitim, das sozialrechtliche Existenzminimum mithilfe dieser so genannten Statistik-Methode zu ermitteln, schreibt Prof. Dr. Johannes Münder, Rechtswissenschaftler an der TU Berlin, in einem aktuellen Gutachten für die Hans-Böckler-Stiftung.* Allerdings kollidierten die Regelungen in vielen wesentlichen Einzelpunkten mit dem Grundgesetz. Münder bezieht sich in seiner Untersuchung auf eine Studie der Verteilungsforscherin Dr. Irene Becker, die ebenfalls für die Hans-Böckler-Stiftung die Methodik der Regelsatzberechnung durchleuchtet hat.**

Insgesamt identifizieren die Wissenschaftler zehn Aspekte, die das neue Verfahren verfassungsrechtlich problematisch machen. Die wichtigsten Punkte:

* Die Vergleichsgruppe ist falsch abgegrenzt, weil die verdeckte Armut nicht herausgerechnet wurde. Als Maßstab zur Regelsatzberechnung sollen Haushalte dienen, die zwar ein geringes Einkommen haben, aber nicht solche, deren Einkünfte unterhalb des Existenzminimums liegen - etwa weil sie die ihnen zustehenden Sozialleistungen nicht ausschöpfen. Dazu wäre es nötig, diese in "verdeckter Armut" lebenden Haushalte aus der Referenzgruppe herauszunehmen. Obwohl geeignete statistische Verfahren zur Verfügung stehen, sei dies aber nicht geschehen, stellen Münder und Becker fest. Damit ergeben sich systematisch zu niedrige Regelsätze.

* Aufwandsentschädigung: Sehr geringe Erwerbseinkommen verzerren Daten. Wer im Wesentlichen von Sozialleistungen lebt und bis zu 73 Euro netto im Monat verdient, müsste dem Gutachten zufolge ebenfalls aus der Referenzgruppe ausgeschlossen werden. Denn dieser Betrag sei nicht als frei verfügbares Einkommen, sondern als Kompensation für Aufwendungen zu interpretieren, die durch eine Erwerbsarbeit entstehen. Hier verheddere sich der Gesetzgeber in Widersprüche, indem er den Betrag von 73 Euro, den er Erwerbsfähigen im Gegensatz zu Erwerbsunfähigen zubilligt, bei der Regelsatzermittlung ignoriert, so Münder. Unter anderem seien die Gebote der Systemklarheit, der Folgerichtigkeit und der Normenklarheit verletzt.

* Wie hoch der Finanzbedarf für langlebige Gebrauchsgüter ist, lässt sich aus der verwendeten Statistik nicht ablesen. Für die EVS zeichnen die Haushalte in der Stichprobe drei Monate lang auf, wofür sie Geld ausgeben. Daraus ergibt sich ein relativ verlässliches Bild der täglichen Ausgaben. Allerdings würden einmalige, nur in großen Abständen erfolgende Anschaffungen wie Fahrräder, Kühlschränke oder Fernseher nicht hinreichend erfasst, so Münder. Daher sei unsicher, ob das vom Grundgesetz geforderte menschenwürdige Existenzminimum mit der verwendeten Berechnungsmethode sichergestellt sei. Die Verteilungsforscherin Becker schlägt vor, Bedürftigen anstelle von Pauschalbeträgen einmalige Leistungen für größere Gebrauchsgüter zu gewähren.

* Die Einstufung bestimmter Konsumausgaben der Vergleichsgruppe als "nicht regelsatzrelevant" führt zu einer Unterschätzung des Existenzminimums. Verfassungsrechtlich problematisch ist nach Überzeugung der Wissenschaftler auch eine fundamentale methodische Inkonsistenz beim neuen Verfahren: Das Statistik-Modell geht von durchschnittlichen Ausgaben aus, nicht vom individuellen Ausgabeverhalten. Zugleich greift der Gesetzgeber mit normativen Begründungen in das statistisch ermittelte Ergebnis ein, indem er bestimmte Positionen für "nicht regelsatzrelevant" erklärt. Das gilt nicht nur für Alkohol und Tabak, sondern etwa auch für Gartengeräte, chemische Reinigung oder Hundefutter. Damit kommt es zu einer Vermischung des Statistik-Verfahrens und des früher üblichen Warenkorbmodells, bei dem die Höhe der Sozialhilfe komplett auf normativen Setzungen fußte. Münder und Becker zufolge wird das Statistik-Modell auf diese Weise "ausgehöhlt", indem die Möglichkeiten der Bedürftigen eingeschränkt werden, einen "internen Ausgleich" zwischen Warenkategorien vorzunehmen. Das kann zu einer Unterschätzung des tatsächlichen Haushaltsbedarfs führen.

Ein Beispiel: Wenn die Referenzhaushalte im Schnitt acht Euro im Monat für Zigaretten ausgeben, bedeutet das keineswegs, dass in allen Haushalten geraucht wird. Tatsächlich hat ein großer Teil der Haushalte überhaupt keine Ausgaben für Tabakwaren - dafür aber etwa höhere Ausgaben für Lebensmittel als die Gruppe der Raucher. Wird das Existenzminimum nun mit Verweis auf die Raucher um acht Euro niedriger angesetzt, haben darunter alle Haushalte zu leiden, auch die Nichtraucher mit überdurchschnittlichem Nahrungsbedarf. Aufgrund solcher Überlegungen dürfe der Gesetzgeber nur in begrenztem Umfang normativ begründete Abschläge von den tatsächlichen Durchschnittsausgaben vornehmen, schreibt Münder. Insgesamt betragen die verschiedenen Abzüge nach Becker aber rund ein Drittel der statistisch ermittelten Ausgaben. So sei nach Ansicht beider Gutachter keine Existenzsicherung mehr gewährleistet.

* Der herunter gerechnete Mobilitätsbedarf Bedürftiger ist nicht nachvollziehbar. Einzelnen Schritten bei der Bedarfsermittlung attestieren die Untersuchungen handwerkliche Mängel. Besonders fragwürdig scheint Münder und Becker die Berechnung des Mobilitätsbedarfs: Hier gehen statistisch ermittelte Ausgaben für Benzin nicht in die Rechnung ein, weil das Existenzminimum auch ohne Auto oder Motorrad erreicht werde. Selbst wenn man diese Sicht akzeptiert, müsste aber eine realistische Betrachtung berücksichtigen, dass die Referenzgruppe bei Wegfall der KFZ-Nutzung höhere Ausgaben für öffentliche Verkehrsmittel gehabt hätte. Allein durch die Missachtung dieses Punkts falle der aktuelle Hartz-IV-Regelsatz um knapp sechs Euro zu niedrig aus.

* Die kulturelle Teilhabe Minderjähriger ist nicht für alle Kinder sichergestellt. Anstelle der per EVS ermittelten Beträge für Vereinsmitgliedschaften oder Ähnliches gesteht der Gesetzgeber Minderjährigen eine zweckgebundene Pauschale von 10 Euro im Monat für Mitgliedsbeiträge von Sportvereinen, Musikunterricht oder Freizeiten zu. Diese ist nicht Bestandteil der monetären Regelleistung, sondern des sogenannten Bildungspakets. Verfassungsrechtlich problematisch sind daran laut Münder vor allem zwei Aspekte: Zum einen kollidiert der eng umrissene Verwendungszweck mit dem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit - Kinder können ganz andere soziale und kulturelle Interessen haben. Zum anderen gehen Kinder leer aus, in deren Wohnumfeld keine entsprechenden Sport- oder Musikangebote existieren. Sie haben unter der Streichung der entsprechenden Position bei der Regelsatzberechnung zu leiden, können die vorgesehene Kompensation aber nicht in Anspruch nehmen.

* Der jüngste Inflationsausgleich erfolgte zu spät. Grundsätzlich sei die Regelung vertretbar, den Hartz-IV-Satz zum ersten Januar an die Teuerungsrate anzupassen, die sich in den zwölf Monaten bis zur Mitte des Vorjahres ergeben haben, so das Gutachten. Bei der jüngsten Anhebung seien aber - trotz vorhandener Daten - die Preissteigerungen des ersten Halbjahres 2010 nicht berücksichtigt worden. Mit dieser Abweichung vom üblichen Prozedere habe der Gesetzgeber seine Pflicht missachtet, das menschenwürdige Existenzminimum "bedarfszeitraumnah" zu bestimmen.

*Johannes Münder: Verfassungsrechtliche Bewertung des Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 24.03.2011 - BGBl. I S. 453, Gutachten für die Hans-Böckler-Stiftung, August 2011

**Irene Becker: Bewertung der Neuregelungen des SGB II. Methodische Gesichtspunkte der Bedarfsbemessung vor dem Hintergrund des "Hartz IV-Urteils" des BVerfG, Gutachten für die Hans-Böckler-Stiftung, August 2011

Die Gutachten in einer Sonderausgabe der Zeitschrift "Soziale Sicherheit":
http://www.boeckler.de/pdf/pm_wsi_2011_09_05.pdf

Ansprechpartner in der Hans-Böckler-Stiftung

Dr. Claus Schäfer
Leiter WSI
Tel.: 0211-7778-205
E-Mail: Claus-Schä Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

Rainer Jung
Leiter Pressestelle
Tel.: 0211-7778-150
E-Mail: Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!

STREET JUMPER - Ein Projekt von Armut und Gesundheit in Deutschland e.V.

am . Veröffentlicht in Allgemeines

Mit unserem STREET JUMPER“, suchen wir Kinder und Jugendliche in benachteiligten Wohngebieten in Mainz auf.

Herzstück des Angebots ist ein für Kinder und Jugendliche attraktives, auffälliges Wohnmobil mit kleiner Küche, Sitzecke, Stauraum für Materialien etc. Es besucht zu immer gleichen Zeiten Orte in verschiedenen Stadtgebieten, an denen sich Kinder und Jugendliche aufhalten.

Bei uns gibt  es einen gesunden Imbiss, eine warme Suppe, Getränke und ansprechende Sport- und Spielmöglichkeiten, körpertherapeutische Angebote und immer ein offenes Ohr für alles. Eine kleine Bibliothek ist vorhanden, ebenfalls Internetzugang, vor Ort wird ein improvisiertes Straßencafé eingerichtet.

Im Mobil ist auch bei schlechtem Wetter Platz für Gespräche und individuelle Beratung oder um sich mal zum Lesen zurückzuziehen.

Für besondere Angebote können wir feste Räume ansässiger Jugendhilfeeinrichtungen nutzen.

Mit Eltern und Großeltern wollen wir durch einen Nachmittagscafétreff ins Gespräch kommen.

Um die Angebote so vielfältig wie möglich zu machen und gleichzeitig auf vorhandene Vereine und deren Angebote aufmerksam zu machen, werden Institutionen und Initiativen aus den Stadtteilen als Kooperationspartner in die Arbeit mit einbezogen. Auch die Menschen, mit denen wir in der inzwischen aufgelösten Obdachlosensiedlung „Zwerchallee“ zusammengearbeitet haben und die in anderen Stadtteilen eine Wohnung bekommen haben, werden aktiv in unsere Arbeit mit einbezogen, damit der gute Kontakt erhalten bleibt, und wir sie bei Problemen auch weiterhin unterstützen können.

Information für Eltern

Das Projekt wurde mit dem Helmut-Simon-Preis ausgezeichnet.

(Quelle: armut-gesundheit.de)

 

Geringqualifizierte zu Fachkräften – Arbeitsmarkt braucht neue Impulse

am . Veröffentlicht in Lohnpolitik

Zu den Arbeitsmarktzahlen für den Monat August erklärt Brigitte Pothmer, Sprecherin für Arbeitsmarktpolitik:

Das Fazit der von der Leyenschen Arbeitsmarktpolitik heißt: Fachkräftemangel bei gleichzeitig hoher Arbeitslosigkeit. Die Spaltung des deutschen Arbeitsmarkts verstärkt sich. Fast eine Million Menschen sind langzeitarbeitslos, während händeringend Fachkräfte gesucht werden. Nach wie vor müssen 1,36 Millionen Menschen ihr Einkommen mit Arbeitslosengeld II aufstocken, und es wächst die Unsicherheit über die weitere wirtschaftliche Entwicklung. Viele Arbeitgeber setzen deshalb auf Leiharbeit und befristete Beschäftigung statt auf Festanstellungen. Offenbar hat die Arbeitsministerin vor dieser komplexen Problemlage kapituliert und versucht sich nun lieber als europa- und finanzpolitische Universalgelehrte.

Die Arbeitslosen und die Beschäftigten brauchen eine Ministerin, die mit einer Qualifizierungs-Strategie hilft, den Fachkräftebedarf zu decken und dabei alle mitnimmt. Der Kahlschlag bei der Arbeitsförderung muss zurückgenommen werden. Es wäre ein wichtiger Impuls für den Arbeitsmarkt, wenn Geringqualifizierte für die Besetzung der offenen Fachkräfte-Stellen befähigt werden. Auch gegen das Ausufern des Niedriglohnsektors muss von der Leyen endlich offensiv vorgehen. Dafür ist ein Mindestlohn genauso unerlässlich wie die Begrenzung prekärer Beschäftigung.

(Quelle:Bündnis90/Grüne)

Betreuungsgeld für Eltern von Kindern unter drei Jahren

Geschrieben von Katja SChneider am . Veröffentlicht in Kinder und Jugendliche

Der Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge e.V., informiert,

ab 2013 sollen Eltern von Kindern unter drei Jahren das Betreuungsgeld erhalten, wenn sie sich entscheiden, ihre Kinder zu Hause zu betreuen. Eine derartige Regelung verhindert die gegenwärtigen Ausbaubemühungen von Kindertagesbetreuungsangeboten. Die Summe von bis zu 1,9 Milliarden Euro, die die Einführung des Betreuungsgeldes kosten würde, sollte in die Schaffung, Erhaltung und Verbesserung infrastruktureller Angebote für Kinder und Eltern investiert werden.

Ein wichtiges und immer aktuelles Thema, welches uns beschäftigt, ist die Pflege. Hier möchte ich Sie auf unsere Empfehlung zur Verringerung von Pflegebedürftigkeit hinweisen. Denn wir sind der Auffassung, dass zur Verringerung und Minimierung von Pflegebedürftigkeit ein Maßnahmenbündel aus wohnortnaher Gesundheitsförderung, abgestufter Frühdiagnostik, geriatrischer Rehabilitation und präventiv arbeitender Pflege erforderlich ist. Die Pflege ist auch Thema unseres Hauptausschuss: " Wohin steuert die Pflege" am 28. September in Berlin. Wir freuen uns, dass wir Prof. Dr. Stefan Görres, den Geschäftsführenden Direktor vom Institut für Public Health und Pflegeforschung an der Universität Bremen, für den Hauptvortrag gewinnen konnten. Danach wird unser Vizepräsident Werner Hesse durch eine sicher angeregte Diskussion mit Vertretern des Bundessozialgerichts und des Bundesministeriums für Gesundheit führen.

Lesen Sie mehr im Anhang.

Obdachlosen - Uni

Geschrieben von Maik Eimertenbrink am . Veröffentlicht in Allgemeines

Sehr geehrte Damen und Herren, sehr geehrte Freundinnen und Freunde der Obdachlosenhilfe,

mein Name ist Maik Eimertenbrink, ich arbeite zusammen mit dem Verband für sozial-kulturelle Arbeit e. V. und der MUT Gesellschaft für Gesundheit mbH an einem Projekt mit dem Arbeitstitel "Obdachlosen-Uni". Das Projekt wird von der Stiftung Pfefferwerk finanziert.

Es geht bei diesem Projekt darum, herauszufinden, wie groß ein mögliches Interesse seitens von Obdachlosen und Bedürftigen an eine Art "Bildungseinrichtung für Obdachlose" ist. Dabei geht es nicht vorrangig darum, die "üblichen" Lehrinhalte bzgl. Hygiene und Selbsthilfe auf der Strasse etc. vorzutragen. Es geht vielmehr darum, dass evtl. sogar Obdachlose selbst (mit Hilfe von zur Seite gestellen Dozenten) "Vorlesungen" durchführen - und das in Ihrem gewohnten Umfeld.

Wie genau und ob soetwas angenommen wird - dies gilt es zu ergründen. Ich schicke Ihnen im Anhang mal einen Fragebogen, den wir so gern in Ihrer Einrichtung auslegen würden. Gern nehmen wir auch Tipps und Anmerkungen von Ihnen entgegen!

Download des Fragebogens

Armut ist falsch verteilter Reichtum

Geschrieben von Arnd Zickgraf am . Veröffentlicht in Pressemitteilungen

Gespräch mit Thomas Beyer, Sprecher der Nationalen Armutskonferenz, über soziales Gewissen und gute Arbeit

 

Die Mehrheit der deutschen Bevölkerung hat kein Vermögen - immer mehr Menschen sind verschuldet. Doch Armut wird verdrängt in einer Gesellschaft, in der Gewinner alles bekommen und Verlierer in der Versenkung verschwinden. Kein Wunder, dass vor diesem Hintergrund nur wenige die Nationale Armutskonferenz (nak) kennen - die sozialpolitische Lobby deutscher Wohlfahrtsverbände und Gewerkschaften, die auch Mitglied des Europäischen Netzwerkes zur Armutsbekämpfung (EAPN) ist.

Thomas Beyer ist stellvertretender Vorsitzender des Landesverbandes der SPD in Bayern und seit 2011 Sprecher der Nationalen Armutskonferenz. Zum Anlass des 20-jährigen Bestehens der nak sprach Telepolis mit Beyer über Glaubwürdigkeitsprobleme von SPD-Politikern, sich als Anwalt von sozial Benachteiligten zu profilieren, die Verarmung von Kindern, Alleinstehenden und Rentnern und falsche Signale Deutschlands an die europäischen Nachbarländer.

Auf Ihrer Homepage taucht das Wort "Armut" kaum auf. Stehen Sie als Abgeordneter nicht zu Ihrem Engagement als Lobbyist für die Armen?

Thomas Beyer: Selbstverständlich stehe ich zu meinem Engagement. In meinem ehrenamtlichen Engagement bei der Nationalen Armutskonferenz bin ich übrigens nicht als SPD-Landespolitiker tätig, sondern als Mitglied des Bundesverbandes der Arbeiterwohlfahrt.

Bayern gilt als reiches Bundesland. Gibt es für die Nationale Armutskonferenz in Bayern überhaupt etwas zu tun?

Thomas Beyer: Die Nationale Armutskonferenz engagiert sich bundesweit. Das Thema Armut beschäftigt uns jedoch auch in Bayern. Es gibt nach dem Armuts- und Reichtumsbericht des Bayerischen Sozialministeriums rund 1,6 Millionen Menschen, also rund 13,6 Prozent, die in Bayern in Armut leben. Dabei verzeichnet das Land ein besonders hohes Maß an Armut bei Alleinerziehenden.Und was viele nicht wissen: Bayern ist ein Land, in dem Rentner überdurchschnittlich hoch von Altersarmut betroffen sind, da es über lange Jahre ein durch landwirtschaftliche Kultur geprägtes Land war. Zusammen mit Rheinland-Pfalz hat Bayern das niedrigste Rentenniveau in Deutschland. "Laptop und Lederhose", Industrie und Hightech haben sich erst seit wenigen Jahrzehnten im Zuge des Strukturwandels entwickelt.

Welche Form der Armut regt Sie auf?

Thomas Beyer: Mich persönlich regt Kinderarmut auf, weil es ein Skandal ist, wenn etwa in einem so reichen Bundesland wie Bayern zur Zeit rund 135.000 Kinder unter 15 Jahren im Regelbezug von Hartz-IV sind.

In der AWO Langzeit-Studie kamen Sozialwissenschaftler schon vor Jahren zu dem Ergebnis, dass Kinder aus armen Familien bei gleichen schulischen Leistungen eine mehrfach geringere Chance haben, gute Bildungsabschlüsse zu bekommen; sie sind von vielen sozialen Kontakten ausgeschlossen, in der Schule auffälliger und kränker.

Weite Bereiche der konservativen Politik verschließen vor diesen Tatsachen die Augen, obwohl kein Kind kann etwas für die Verhältnisse kann, in die es hineingeboren ist.

Im Jahr 2003 kommentierte N-TV die Pläne der Rot-Grünen Koalition, den Sozialstaat umzubauen: "SPD macht arm". Selbst der damalige Sprecher der Nationalen Armutskonferenz, Paul Saatkamp, rechnete damit, dass durch den Umbau etwa 15 Millionen Menschen in Deutschland verarmen würden. Wie glaubwürdig ist es, wenn ein SPD-Politiker heutzutage noch als Anwalt für die Armen auftritt?

Thomas Beyer: Ich bin tatsächlich klischeebehafteten Vorbehalten begegnet. Doch innerhalb weniger Monate der Arbeit für die Nationale Armutskonferenz habe ich deutlich machen können, dass es mir ein wirkliches Anliegen ist, für die Belange sozial benachteiligter Menschen einzutreten.

Es war ja die Arbeiterwohlfahrt, die die Agenda 2010 der damaligen Rot-Grünen Koalition unter Gerhard Schröder sehr kritisch kommentiert hat. Die Arbeiterwohlfahrt ist nach wie vor das soziale Gewissen der Arbeiterbewegung. Leider ist es so, dass man innerhalb der SPD nicht immer mit offenen Armen empfangen wird, wenn man dezidiert sozialpolitische Themen vertritt.

Warum nicht?

Thomas Beyer: Weil die Frage, welcher Kurs die SPD erfolgreich macht, seit Gerhard Schröder sehr umstritten ist. Doch gerade ein sozialpolitisches Ehrenamt auszuüben und eine so wichtige Aufgabe für die Nationale Armutskonferenz wahrzunehmen, kann der SPD heutzutage nur gut tun.

Sozial kann nur sein, was gute Arbeit schafft

Wie stark schätzen Sie die Kräfte in der SPD ein, die sich wirklich für das Armutsproblem interessieren?

Thomas Beyer: Beim Landesparteitag der SPD in Bayern vor drei Wochen habe ich den Antrag vorgestellt, die Vermögenssteuer wieder einzuführen - es gab nur zwei Gegenstimmen. Damit will ich sagen: Die Basis der Landespartei will meiner Meinung nach zweifelsfrei die Partei des sozialen Gewissens sein. Die bayerische SPD gilt in den Medien als linker Landesverband. Das macht uns beim Parteivorstand in Berlin nicht gerade unverdächtig.

Aber darauf kommt es nicht an. Nur das immer neue Ringen um Entscheidungen, die einmal getroffen wurden, die Überprüfung beispielsweise der Agenda-Politik, gibt der Partei die Chance, die Belange der Menschen wahrzunehmen.

Das Nettovermögen ist ungleich verteilt. Das reichste Zehntel der Bevölkerung hält über 60 Prozent des gesamten Vermögens. Ist es nur der Reichtum, der falsch verteilt ist, oder müssen mehr Arbeitsplätze geschaffen werden, damit mehr Menschen am Wohlstand teilhaben?

Thomas Beyer: Die Mehrheit der Bevölkerung hat wenig Vermögen, minimales Vermögen oder sogar Schulden. In der Breite ist die deutsche Bevölkerung vermögenslos. Das kann auf Dauer gesellschaftlich nicht gut gehen. Das Motto der Nationalen Armutskonferenz lautet dementsprechend: Armut ist falsch verteilter Reichtum. Das heißt, es bedarf eines sozialen Ausgleichs für sozial benachteiligte Menschen. Diejenigen, die sehr viel besitzen, müssen stärker an der Finanzierung gesellschaftlicher Aufgaben beteiligt werden.

Dabei gilt: Nicht jede Arbeit ist sozial. Sozial kann nur sein, was gute Arbeit schafft. Gegenwärtig haben wir das Problem, dass im wirtschaftlichen Aufschwung weitaus mehr Menschen beschäftigt sind als vor der Finanzkrise. Aber die Beschäftigungszuwächse wurden nicht mit regulären Arbeitsverhältnissen erzielt.

Wir verzeichnen Rekorde bei geringfügigen Beschäftigungen, bei Teilzeitbeschäftigungen, bei befristeten Arbeitsverhältnissen und bei Leiharbeit. Die Haltung der Bundesregierung, die Menschen irgendwie in Arbeit zu bringen, wirkt sich fatal aus, insbesondere weil die meisten mit geringen Löhnen beschäftigt sind - damit wird das Problem der Altersarmut in Zukunft massiv verschärft.

Deutschland gibt falsche Signale

Deutschland ist eines der reichsten Länder der Welt. Reiche werden immer reicher, Arme immer ärmer. Steckt Deutschland mit seiner Sozialpolitik auch andere Länder der Europäischen Union an?

Thomas Beyer: Wenn es schon das reichste Land Europas nicht schafft, dass die Schere zwischen Armen und Reichen weniger auseinandergeht, mit welcher Berechtigung schaut es dann auf andere Länder herab?

Deutschland wird in zweifacher Hinsicht seiner Verantwortung nicht gerecht: Wir schaffen es nicht, im eigenen Land die gesellschaftlichen Verhältnisse sozial gerecht zu ordnen - und wir geben damit anderen EU-Ländern die falschen Signale.

Im Dezember 2011 kann die Nationale Armutskonferenz auf ihr 20 jähriges Bestehen zurückschauen. Wie arbeitet sie?

Thomas Beyer: Die Nationale Armutskonferenz arbeitet demokratisch, das heißt, sie gibt allen Mitgliedern die Möglichkeit, mitzusprechen. In den vergangenen 20 Jahren ist es uns mal mehr und mal weniger gut gelungen die öffentliche Meinung mit unseren Themen zu erreichen.

Da, wo man sie hört, wird sie als glaubwürdiger Anwalt der Betroffenen verstanden. Wir arbeiten daran, die öffentliche Diskussion mehr zu durchdringen, nicht nur Mahner zu sein, sondern auch lautstarker Anwalt. Wir wollen der Regierung lästig sein.

Nur wenige kennen die Nationale Armutskonferenz. Welches politische Gewicht hat sie derzeit?

Thomas Beyer: Die gegenwärtige politische Situation lässt nicht den Eindruck zu, dass die Nationale Armutskonferenz der erste Ansprechpartner der Bundesregierung in sozialen Fragen ist. Doch zum ersten Mal sind wir zum nationalen Rentendialog im Herbst 2011 eingeladen.

Wir haben außerdem erreicht, dass wir am Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung mitarbeiten können. Es muss selbstverständlich werden, dass solche Berichte nicht mehr ohne das Sprachrohr der Betroffenen geschrieben werden.

(Mit freundlicher Genehmigung von Arndt Zickgraf, Telepolis)