EU-Plattform gegen Armut in der Wettbewerbsfalle

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Kommentar von Gabi Zimmer, Koordinatorin der GUE/NGL-Fraktion im Auschuss für Beschäftigung und Soziales

Die Schlussfolgerungen des EPSCO-Rates(Rat für Beschäftigung, Sozialpolitik, Gesundheit und Verbraucherschutz) vom 7. März 2011 legen das Desinteresse der EU-Mitgliedsstaaten an den Armutsbekämpfungszielen der EU-2020-Strategie offen. Während die Schlussfolgerungen zur Plattform gegen Armut von unverbindlichen Bekenntnissen geradezu überschäumen, steht die Wahrheit zu den sozialen Zielen des EPSCO in der am gleichen Tag verabschiedeten Position zum Jahreswachstumsbericht 2011. Die Staaten geben darin offen zu, dass sie nach derzeitiger Faktenlage noch nicht einmal die Minimalziele der 2020-Strategie erfüllen werden, 20 Millionen Menschen aus der Armut und 75 Prozent in Beschäftigung zu bringen.

Sie haben offenbar kein echtes Interesse, die Sozialstandards zu erhöhen - es sei denn, als erhofftes Nebenprodukt von Wachstum und wirtschaftlichem Wettbewerb. Laut EurActiv.com geht sogar die EU-Kommission davon aus, dass statt der angekündigten 660.000 bis zu 2,5 Millionen Menschen in Deutschland vom Armutsrisiko befreit werden könnten. Doch in der sozialpolitischen Wirklichkeit, sozusagen am Sockel der Plattform, heißt die Devise: Wettbewerb! Die in den Schlussfolgerungen zum Jahreswachstumsbericht 2011 vorgeschlagenen Arbeitsmarktreformen empfehlen eine Senkung des Arbeitsschutzes unter dem Pseudonym "Flexicurity", weitere Erhöhungen des Renteneintrittsalters, eine enge Bindung des Verhältnisses von individueller Einzahlung zu Auszahlung bei den Renten und Abbau von Frühverrentungssystemen. Zusammengefasst heißt das: Durch geringeren Arbeits- und Kündigungsschutz kommt es zu schnelleren Entlassungen und die völlige Auslieferung des Einzelnen an den Arbeitsmarkt bis ins hohe Alter, während Renten indirekt auf Armutsniveau gekürzt werden. Abhilfe schaffen soll eine "kosteneffektive Bildung und Berufsbildung" sowie "lebenslanges Lernen" zur Anpassung der menschlichen Fähigkeiten an die "Bedürfnisse des Arbeitsmarkts". Die Reste der kaputt gesparten Sozialstaaten sollen einen "angemessenen" Sozialschutz garantieren, wenn es leider einmal nicht so gut läuft.


Der EPSCO empfiehlt darüber hinaus den Mitgliedstaaten und Sozialpartnern, Festlegungen der Löhne an der "Vermeidung und Behebung makro-ökonomischer Ungleichgewichte" und an der "Erhöhung von Wettbewerbsfähigkeit" auszurichten, wogegen die Gewerkschaften zu Recht Sturm laufen. Sozialausgaben sollen nicht etwa erhöht, sondern "effizienter" und "evidenzbasiert" werden; letzteres kennen wir aus den deutschen Hartz-4-Verhandlungen, in denen um fünf oder gar acht Euro höhere Armutsbezüge verhandelt wurde.
Der Jahreswachstumsbericht 2011, der den Schlussfolgerungen zu Grunde liegt, enthält obendrein die Forderung nach allgemeiner Verlängerung der Arbeitszeiten, denn die zu kurzen Arbeitszeiten in EU werden als "Bedrohung" für die weltweite Konkurrenzfähigkeit bezeichnet. Das ist eine Kampfansage im Vorfeld des nächsten Versuches von Kommission und Rat, die EU-Arbeitszeitrichtlinie zu durchlöchern. Außerdem soll die Liberalisierung von Dienstleistungen vorangetrieben und der Bezug von Arbeitslosengeld an verschärfte Verpflichtungen zur Arbeitsaufnahme geknüpft werden. Als wäre das nicht genug, gibt es Appelle zu "strikter und nachhaltiger Lohndisziplin" vor allem für Defizitstaaten und den Abbau "übermäßigen Schutzes von Beschäftigten mit unbefristeten Verträgen".
In diesem Kontext wird das Kommissionspapier zur Plattform gegen Armut zu einem Wunschzettel, den die Mitgliedsstaaten kaum erfüllen werden, während sich die Sozialverbände daran abarbeiten.

 

Straßburg, 10. März 2011


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Problem Neoliberalismus

Geschrieben von Mediendienst Hälfte . Veröffentlicht in andere Länder

(ver.di) Der französische Präsident Hollande steht unter Druck. Bundeskanzle­rin Merkel, die EU-Kom­mission und Unternehmerverbände fordern, dass er auf ihren neoliberalen Kurs einschwenkt: Kürzung öffentlicher Ausgaben und Steuer- und Lohnkos­tensenkungen für Industrie.

Das soll Frankreichs Wirtschaft auf Trab bringen. Dabei folgte die französi­sche Loh­nentwicklung fast perfekt dem verteilungsneutralen Spielraum: Steigen die Löhne im Gleichschritt mit Produktivität und Inflation, verteilt sich der wirtschaftliche Zuwachs gleichmäßig auf Beschäftigte und Unternehmen. Das hat – anders als in Deutschland – die Nachfrage gestärkt und mehr Wachstum und Jobs gebracht.

Das wahre Problem Europas ist die schlechte Lohnentwicklung in Deutschland. Sie trieb die Exporte, aber schwächte gleichzeitig die Nachfrage – auch nach Gütern aus anderen Ländern. Damit hat die größte Wirtschaftsmacht der EU andere Euroländer in steigende Handelsdefizite und Verschuldung getrieben.

Jetzt zwingt Merkel ganz Europa eine brutale Kürzungspolitik auf. Diese ist unsozial und ungerecht und verschärft auch noch die wirtschaftliche Krise in immer mehr EU-Ländern. Ein Kurswechsel ist nicht in Frankreich, sondern in Deutschland nötig: kräftig steigende Löhne, mehr Sozialstaat, gerechte Politik. Geld ist genug da – es haben nur die Falschen.

(Wirtschaftspolitik, 19. November 2012)

Arbeitslosigkeit in Europa auf Rekordhoch

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(Swissinfo 30.11.2012). Die Schuldenkrise hat die Zahl der Arbeitslosen in der Eurozone er­neut auf einen Rekordwert getrieben. Im Oktober waren in den 17 Euroländern 18,7 Mio. Menschen ohne Job - so viele wie noch nie seit Einfüh­rung des Euro. Das entsprach einer Quote von 11,7 Prozent.

Wie die europäische Statistikbehörde Eurostat in Luxemburg mitteilte, wurden im Vergleich zum Vormonat 173'000 mehr Arbeitslose gezählt. Gegenüber dem Vorjahr war es ein Anstieg von mehr als zwei Millionen.

Dramatisch sieht die Lage in den Euro-Krisenländern aus, wo Firmenpleiten und Entlassungen den Arbeitsmarkt belasten. In Spanien ist bereits mehr als jeder vierte Arbeitnehmer ohne Job, in Griechenland sind es nur knapp weniger. Im schuldenge­plagten Portugal ist jeder sechste ohne Arbeit.

Junge Leute waren besonders stark betroffen. Im Oktober waren in den Euro-Län­dern 3,6 Mio. Menschen unter 25 Jahren arbeitslos. Der Zuwachs fiel mit 350'000 doppelt so stark aus wie bei allen Arbeitnehmern insgesamt. Auch die Arbeitslosen­quote war bei jungen Leuten mit 23,9 Prozent mehr als doppelt so hoch. (sda-ats)

Familienarmut in der reichen Schweiz

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Ergänzungsleistungen für Familien sind ein wirksames Mittel gegen Familien­armut: In der Schweiz leben mindestens eine Viertelmillion Kinder in einer von Armut betroffenen Familie. Sie sind arm, weil sie zum Beispiel in einer kinderreichen Familie oder mit einem alleinerziehenden Elternteil aufwach­sen.

Hälfte / Moitié. Diese Armut hinterlässt Spuren im Lebenslauf eines Kindes. Ar­mutsbetroffene Kin­der haben öfter Probleme in der Schule, brechen häufiger eine Lehre ab und sind als Erwachsene selbst häufiger von Armut betroffen.

Die von Armut betroffenen Familienhaushalte gehören oft zu den sogenannten «Working Poor»: Sie sind arm, obwohl sie einer Arbeit nachgehen. Dabei sind be­sonders viele Working Poor im Gastge­werbe oder im Detailhandel zu finden. Aber auch ein ansehnlicher Teil der Bäuerinnen und Bauern im ländlichen Raum gehö­ren zu den Working Poor.

Zögernde Politik

Dass Kinder- und Familienarmut in der reichen Schweiz überhaupt möglich ist, ist inakzeptabel: Die Schweiz könnte es sich als Gesellschaft leisten, keine Armut zu haben. Familienarmut als Problem und Ergänzungsleistungen für Familien (FamEL) als eine mögliche Lösung stehen denn auch seit mehr als zehn Jahren auf der poli­tischen Agenda. Ergänzungsleistungen für Familien könnten dazu beitragen, die Familienarmut in der Schweiz zu lindern, analog den Ergänzungsleistungen zur AHV/IV. Familienergänzungsleistungen können aber nicht nur die Armut in den Familien verringern, sondern auch die Gemeinden bei der Sozialhilfe entlasten.

Als Pioniermodell der Ergänzungsleistungen für Familien in der Schweiz wird das Tessiner Modell betrachtet. Bereits 1997 hat der Kanton Tessin die Kinderzulagen zu einer umfassenden Bedarfs­leistung für Familien ausgebaut. Zwei Jahre später wurde ein ähnliches Projekt auf Bundesebene initiiert, welches aber bis heute nicht realisiert werden konnte, so dass in der Zwischenzeit ver­schiedene Kantone eigene Initiativen lanciert haben. Als erster Kanton nach dem Tessin hat Solo­thurn 2010 Familienergänzungsleistungen eingeführt - und der Kanton Waadt folgte 2011 nach.

Wichtiger Entscheid im Kanton Bern

Im Kanton Bern steht demnächst der Entscheid zu Familienergänzungsleistungen an. Den Anstoss dazu gab Grossrat Daniel Steiner-Brütsch (EVP, Langenthal), dessen Vorstoss «Ergänzungsleis­tungen für einkommensschwache Familien als wirksames Mittel gegen Familienarmut» bereits im Januar 2009 vom Grossen Rat mit 81 Ja-Stimmen und 58 Nein-Stimmen überwiesen wurde.

Trotz dieses klaren parlamentarischen Auftrages, die entsprechenden gesetzlichen Grundlagen für Familienergänzungsleistungen zu schaffen, weigert sich der Regie­rungsrat des Kantons Bern bis anhin, solche Grundlagen auszuarbeiten. Damit wird das Parlament, welches mehrmals den Willen bekundet hat, Ergänzungsleistungen für Familien einzuführen, nicht ernst genommen.

Infolgedessen hat EVP-Grossrat Daniel Steiner-Brütsch einen weiteren parlamenta­rischen Vorstoss in Form eines ausgearbeiteten Gesetzesvorschlages lanciert. Damit soll der Regierungsrat endlich zur Umsetzung des parlamentarischen Auftra­ges und zur Einführung von Ergänzungsleistungen für Familien bewegt werden.

In der kommenden Septembersession wird der bernische Grosse Rat über den er­wähnten, neuesten Vorstoss von EVP-Grossrat Daniel Steiner-Brütsch beraten. Es bleibt zu hoffen, dass das Parlament die Weichen richtig stellt. Denn: Was eine Familie zum Leben braucht, muss – wo nötig – mit Er­gänzungsleistungen gedeckt werden. Sie sind ein Schlüsselinstrument für die Armutsbekämpfung und können überdies als Grundrecht der von Armut betroffenen Kinder angesehen werden.

Mediendienst Hälfte
Service de média Moitié
Verein für soziale Gerechtigkeit
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Betriebswirtschaftlich altern und sterben

Geschrieben von Alfred Gebert . Veröffentlicht in andere Länder

Der Neoliberalismus scheint nun die letzte Stufe des menschlichen Daseins er­reicht zu haben. Alters- und Pflegeheime werden mit Kostenrahmen und nach Grundsät­zen der Rentabilität geführt. Diese ersetzt den Wert der Würde – und ökonomi­siert die Menschen noch kurz vor dem Tod.

Im Zusammenhang mit der Neuregelung der Finanzierung für die Pflege in Alters- und Pflegeheimen und durch das Organisieren der Hilfe und Pflege zu Hause über das KVG wurde ein Prozess beschleunigt, der schon vor dem Inkrafttreten der KVG-Än­derung am 1.1.2011 in einigen Kantonen begonnen hatte: Pflegeheime wurden zu­nehmend aus der Verbindung mit Gemeinden und Gemeindeverbänden herausge­löst. Das Schlagwort „Privatisierung“ zeigt auf die Statusänderungen, auch wenn damit der Tatbestand nicht präzise erfasst wird.

Die Neuregelung der Finanzierung brachte mit sich, dass die Beiträge eines Kantons und/oder seiner Gemeinden einem Automatismus unterliegen: Die Leistungen der Krankenkassen sind für jede der 12 Pflegestufen festgelegt wie auch die Höchstbei­träge der Bewohnerinnen. Kanton und/oder Gemeinden haben die restlichen Pflege­kosten (pro Pflegestufe) zu decken.

Budgetverantwortung im Vordergrund

Wie viel dabei auf eine Gemeinde entfällt, hängt weitgehend von den im betreffenden Kanton allgemein geltenden Regeln zur Aufgabenteilung zwischen Kanton und Ge­meinden ab. Aber dies ist weniger bedeutsam als der Automatismus, welcher aus dem System resultiert: Weil der Umfang der Kostenübernahme durch die Kassen fixiert ist, sind auch die Beiträge eines Kantons festgeschrieben, und was eine Ge­meinde für ihre Einwohnerinnen in Pflegeheimen zu leisten hat, ist wiederum vom betreffenden Kanton vorgegeben. Für Heimleitungen liegt also eine Art „Budgetver­antwortung“ vor, wie wir sie im Fall von Managed Care (Abstimmung vom 17. Juni 2012) kennen soll­ten.

Auf der Kostenseite hat ein weiteres Element dazu beigetragen, dass die Stimmbür­ger einer Gemeinde sich weniger mit „ihrem“ Heim zu beschäftigen haben. Seit rund zwanzig Jahren zielten die Kantone schrittweise auf Taxen, welche die sogenannten Vollkos­ten decken, d.h. die Heime hatten – in unterschiedlichem Tempo je nach Kanton – zunehmend Abschreibungen in die Taxen zu übernehmen.

Eine Gemeindeabstimmung über eine Teil- oder die Gesamtsanierung eines Heimes wird (sofern in einer Gemeinde überhaupt noch nötig) zu einem quasi symbolischen Urnengang: Der überwiegende Teil der Sanierungskosten vermag aus den Reserven des Alters- und Pflegeheimes gedeckt zu werden.

Man darf für manche Kantone behaupten, dass die in den Heimen verrechneten Kosten für Pflege und Betreuung in Alters- und Pflegeheimen bis in die Jahrtau­sendwende politisch festgelegt worden sind (so zum Beispiel im Kanton Luzern). Dass dieses „politisch festgelegt“ dabei sehr viel tiefer ging als die meisten kommu­nalen Instanzen wahrnahmen, braucht hier nicht zu interessieren.

In der jüngeren Vergangenheit wurde es für Gemeinden und Gemeindeverbände immer weniger interessant, sich um Heimpolitik zu kümmern. Die offizielle Ideologie ist es seit dem 1.1.2011 auch, dass die Entscheide über die Taxen der 12 Pflege­stufen betriebswirtschaftlich fundiert seien.

Dieses Parfum der „Betriebswirtschaft“ passt ideal in das allgemeine Gesäusel der Privatisierung. Warum sollten sich auch die (politisch ausgewählte) Heimkommission, der Gemeinderat oder gar die Gemeindeversammlung noch um ein Pflegeheim küm­mern, wenn es doch auf betriebswirtschaftlich klarer Basis (neu als Stiftung, AG des Öf­fentlichen Rechtes, usw.) geführt wird?

Kostenträchtige Menschen abwimmeln

Eine erste in Erfahrung gebrachte Konsequenz ist unerfreulich: Es gibt einige Heim­leitungen, welche versuchen „kostenträchtige“ Bewohner nicht ins Heim aufzuneh­men. Da muss diese Leitung gegenüber Interessenten (auch Sozialdiensten von Spi­tälern) behaupten, es habe keine freien Betten oder man sei aktuell – nach eini­gen Kündigungen – personell unterdotiert.

Es ist nun einmal so, dass die Einteilung in Pflegestufen einem kleineren Teil von Bewohnern nicht gerecht werden kann: verhaltensauffällige dementiell Erkrankte, manche Psychiatrieerfahrene, betagte Alkoholiker, Bewohnerin­nen mit severe de­pression, „schwierige“ Bewohner, usw. benötigen für eine kunstge­rechte und einfühl­same Betreuung in der Regel bedeutend mehr Zeit als die fast ex­klusiv auf soma­tisch Erkrankte ausgerichteten Pflegeeinstufungen (in der Deutsch­schweiz RAI und BESA) es erlauben.

Ein Mehr an Aufwand bedeutet aber weniger Einnahmen als für das „Globalbudget“ nötig wären. Da wird ökonomisch richtig gehandelt, wenn ein freies Bett nicht mit ei­nem „aufwändigen“ neuen Bewohner besetzt wird.

Dazu kommt, dass eine grössere Zahl von Heimen alles andere als komfortabel mit qualifiziertem Pflegepersonal (das gerade für solche Bewohner notwendig wäre) do­tiert ist. Dieser Tatbestand ist nicht exklusiv auf die Notwendigkeit zu kostengünstiger Leistungserbringung zurückzuführen. In einigen Regionen sind Pflegefachkräfte mit der notwendigen fachlichen und erfahrungsmässigen Basis ohnehin schwer zu rek­rutieren.

Bei den vorangehenden knappen Hinweisen zu unerfreulicher Entwicklung geht es um eine vorläufige Trendmeldung. Ob sich das Unerfreuliche weiterverbreitet, wäre nur mit grösserem Aufwand in Erfahrung zu bringen. Und daran ist ein kantonales Gesundheits- oder Sozial-Departement kaum interessiert.

Sicher ist, dass es für die Gruppe der erwähnten potentiellen Heimbewohner schwie­rig ist, Unterstützung zu finden. Auch gut ausgebaute Spitex-Dienste könnten nur selten den notwendigen Betreuungsaufwand erbringen; sozialpsychiatrische Dienste vermögen nur ausnahmsweise betreuende Aufgaben mit einiger Intensität zu garan­tieren und Psychiatrische Kliniken bauen (zu Recht) ihre gerontopsychiatrischen Langzeitabteilungen ab.

Menschlichkeit noch möglich

Ohne vergangene Zeiten irgendwie zu romantisieren, ist doch auf die Institution des Gemeindeheims zurückzukommen. Dort wurden mehr oder weniger oft Abweichun­gen vom Budget von den zuständigen Instanzen akzeptiert, weil Einwohner so z.B. vor einem Eintritt in die Psychiatrie behütet werden konnten, weil es einer betagten Ehefrau einfach nicht mehr möglich ist, ihren periodisch randalierenden Mann zu be­ruhigen oder wenn Angehörige mit der Betreuung eines schwer verhaltensgestörten dementiell Kranken überfordert sind.

Dies wird auch in Zukunft in mehreren Heimen möglich bleiben. Aber wenn dann der angetippte Trend zur konsequent betriebswirtschaftlichen Führung des Heimes sich verstärkt, werden manche darunter leiden – sicher nicht jene aus den sog. oberen sozialen Schichten.

Wir haben kürzlich mit einem Team qualitative Ausprägungen eines gemeindeeige­nen Alters- und Pflegeheimes beurteilt, in dessen fünfköpfiger Heimkommission drei der sieben Mitglieder des Gemeinderates Sitz und Stimme hatten und wo das von der Gemeinde erlassene Heimreglement festhält: „Die oberste Aufsicht obliegt dem Gemeinderat.“

So etwas widerspricht wahrscheinlich zentralen Aspekten „moderner Führung“. (Und es wäre dann noch das Tüpfchen auf dem i, dass ein Mitglied der fünfköpfigen Heim­kommission mindestens einen halben Tag pro Woche als Freiwilliger im Heim tätig ist.)

Der hier „viel zu stark“ involvierte Gemeinderat hatte über die Zeit einer ganzen Reihe von engagierten Mitarbeiterinnen in eigener Kompetenz Zulagen ausgerichtet. Und er kennt jene fünf betagten Bewohnerinnen/Bewohner, welche ihrer somati­schen und/oder psychischen Behinderungen wegen mindestens doppelt so viel Zeit für Betreuung und Zuwendung (!) benötigen, wie ihnen gemäss der Pflegeeinstufung zustehen würden.

Dieses gemeindeeigene Heim hat dann in der wissenschaftlichen Beurteilung von 29 komplexeren (nicht ISO-) Ausprägungen der Qualität, Qualitätsförderung und Quali­tätssicherung glänzend reüssiert.

Zur Person: Dr. Alfred Gebert hat in den USA Gesundheitswesenforschung (Health Services Research) studiert und ist beratend für öffentliche Institutio­nen tätig. Zu seinen Publikationen gehört „Qualitätsbeurteilung und Evaluation der Qualitätssicherung in Pflegeheimen“ (2. Aufl., Bern 2003). Dieses Buch wurde mit dem Vontobel-Preis für Altersforschung der Universität Zürich aus­gezeichnet.

Quelle: Newsletter www.haelfte.ch