Der Sozialbericht 2012 des Kantons Bern ist als Ganzes betrachtet eine beispielhaft gute Grundlage für dringende öffentliche Interventionen in armutsbetroffenen und -gefährdeten Bereichen unserer Gesellschaft.
Nur zwei Jahre nach dem Europäischen Jahr gegen Armut und soziale Ausgrenzung wird für den Kanton Bern eines deutlich: die Armut breitet sich weiter aus. Es gibt immer mehr Leute, die ihr Leben sozial und wirtschaftlich nicht mehr aus eigener Kraft meistern können.
Dazu einige Trends, die der Bericht aufführt:
► Die Erwerbseinkommen der ärmsten Haushalte sinken.
► Der Anteil armutsgefährdeter und armer Haushalte steigt.
► Die Armutsgefährdungsquote steigt.
► Die Armutsgefährdung von Personen zwischen 50 und 60 Altersjahren steigt.
► In 12 Prozent der Haushalte von Familien, alleinerziehenden oder älteren Personen gibt es keine Existenzsicherheit.
Der Sozialbericht 2012 erscheint neu als Bericht des Regierungsrates. Die Armut im Kanton Bern ist somit von der Ebene der Gesundheits- und Fürsorgedirektion zu einer kardinalen Frage des Regierungsrates angehoben worden. Ein deutliches Zeichen, dass die soziale Lage endlich ernst genommen wird, wenigstens von der Regierung.
Sieben konkrete Massnahmen
Mit den folgenden Massnahmen soll die Armut im Kanton Bern in erster Linie bekämpft werden:
► Die polyvalent zusammengesetzte Kommission für Sozial- und Existenzsicherungspolitik berät die Gemeinden, die Verwaltung und den Regierungsrat im Sinne einer Sensibilisierung auf die soziale Frage, die heute weit über Sozialhilfe und Soziale Arbeit hinausreicht und die verschie-densten Politikbereiche mit einbezieht.
► In Zukunft werden durch eine Sozialverträglichkeitsprüfung alle Gesetzeserlasse auf ihre Wirkung speziell auf sozial Benachteiligte hin überprüft, um Ausgrenzungen und Schikanen zu
vermeiden.
► Die erweiterte Analyse der wirtschaftlichen Situation der Bevölkerung durch zusätzliche Befragungen von armutsbetroffenen oder –gefährdeten Personen wird die traditionelle Auswertung der Steuerdaten des Kantons ergänzen.
► Im Rahmen der familienergänzenden Kinderbetreuungsangebote werden die Tagesschulangebote ausgebaut, auch während den Ferienwochen.
► Die Action éducative en milieu ouvert (AEMO) ist ein gezieltes und präventiv wirkendes Hilfsprogramm bei erzieherischen, persönlichen, familiären, schulischen oder berufsbezogenen Fragen, das nun ausgeweitet werden soll.
► Armutsprävention und Chancengleichheit im Bildungswesen werden in der Harmonisierung von Sozialhilfe und Stipendien besser aufeinander abgestimmt.
► Schliesslich sind für Jugendliche die Übergänge zwischen Schule und Ausbildung oder zwischen Ausbildung und Arbeitsmarkt mit einer Beratungskette verstärkt zu begleiten.
Mit diesem Programm beschreitet der Regierungsrat eine Gratwanderung zwischen dem allzu ambitiösen Ziel seiner Sozialpolitik, der teilweise wachsenden und virulenten Armut und Armutsgefährdung und der komplexen finanzpolitischen Situation, in welcher sich der Kanton Bern befindet. Man darf aber den bernischen Behörden und insbesondere dem Gesundheits- und Fürsorgedirektor, Regierungsrat Philippe Perrenoud, zugutehalten, dass diese Sozialberichterstattung als Grundlage für eine sorgfältige und konsequente Intervention auf dem äusserst sensiblen und von den Medien vernachlässigten Gebiet der öffentlichen Sozialhilfe beispielhaft ist.
Halbierung der Armut unrealistisch
Der Sozialbericht 2012 gibt mir Anlass zu drei Bemerkungen.
Zum einen: Die Halbierung der Armut innerhalb von zehn Jahren – das ambitiöse Ziel wird heute kaum mehr erwähnt. Angesichts der mit dem neuesten Sozialbericht bestätigten und gegenläufigen Trends ist für das Jahr 2020 nicht nur kein Wunder, sondern eher ein Fiasko zu erwarten.
Der Regierungsrat hat vielleicht noch ein, zwei Jahre Zeit, um die leichtgewichtige Zielsetzung zu korrigieren und sie als desillusionierte Planungsgrösse auf den Boden der Realität herunter zu holen. Denn als politisches Ziel war die simple Kopie eines nach der UNO-Milleniumseuphorie geborenen Werbetrailers gar nie ernst zu nehmen. Der Schaden von globalen Werbesprüchen wird indessen in der lokalen Politik und deren Glaubwürdigkeit angerichtet.
Zum andern: Das revidierte Sozialhilfegesetz ist zwar erst gerade in Kraft gesetzt worden. Aber im Grossen Rat soll es mit einer Motion Studer (SVP) bereits wieder geändert werden. Die Sozialhilfekosten müssen jetzt unbedingt „optimiert“ werden. „Optimieren“ – das bedeutet in der Regel kürzen, sparen, reduzieren.
In der Begründung wird die St. Galler Professorin Monika Bütler so zitiert: ohne Kürzungen fördere die Sozialhilfe bei den Jungen ja nur einen Lebensstil, an den man sich gewöhnen könnte.Das darf man sich so vorstellen: der junge Arbeitslose und die junge Alleinerziehende könnten sich mithilfe einer allzu üppigen Sozialhilfe ihres Lebens froh werden und fortan nur mehr zu Hause auf der faulen Haut liegen bleiben. Und allen Ernstes wird die Motion auch noch mit dem Umstand herbeigeschwatzt, es gebe SozialhilfeempfängerInnen, die sogar über ein Privatauto verfügten. Noch immer verteufelt die grösste Partei im Land alle jene, die ihre Rechte auf soziale Unterstützung geltend machen, als Profiteure und faule Gesellen.
Tabu Nichtbezugsquote
Genau dieses abgründige Misstrauen den Sozialhilfe-EmpfängerInnen gegenüber führt mich schliesslich zu einer letzten kritischen Bemerkung zum Sozialbericht 2012 des bernischen
Regierungsrates.
Obschon wir in einem ausgebauten Sozialstaat leben, gilt der rechtmässige Bezug sozialer Hilfe und Unterstützung zunehmend als Makel, ja sogar als Schande. Im Sozialbericht nimmt
man eine Unmenge an statistischen Zahlenreihen und Quoten über die öffentliche Sozialpolitik zur Kenntnis.
Allein über eine der wichtigsten Referenzgrössen zu deren Zustand wird jedoch seit Jahren konsequent geschwiegen: es ist die sogenannte Nichtbezugsquote. Dies ist der Anteil an Sozialhilfe-Bezugsberechtigten, die sich trotz ihrer prekären Lebenslage gar nicht erst vor den Schaltern der Sozialämter einfinden. Diese Quote liegt mittlerweilen bei 60%, wie man kürzlich einem Bericht von SRFonline entnehmen konnte, der dabei auf Zahlen des Bundesamtes für Statistik basierte.
Warum ausgerechnet eine Mehrheit von sich in einer Notlage befindenden Menschen die Errungenschaften unserer Sozialpolitik ablehnt, scheint weder die Regierung noch das Parlament
sowohl im Kanton wie auch in der Eidgenossenschaft einen Deut zu kümmern. Es wäre an der Zeit, wenn der bernische Regierungsrat spätestens im nächsten Sozialbericht das Tabu brechen und sich zu diesem skandalösen Sachverhalt äussern würde.
Siehe Sozialbericht:
http://www.gef.be.ch/gef/de/index/soziales/soziales/sozialbericht_2008.html
Zwei Stellungnahmen
Die Berner Konferenz für Sozialhilfe, Kindes- und Erwachsenenschutz (BKSE) zum Sozialbericht 2012:
Die Resultate der umfassenden Analyse sind nicht unerwartet, aber in ihrer Deutlichkeit erschreckend. Die Armuts- und die Armutsgefährdungsquoten sind in den letzten 10 Jahren ste-
tig gestiegen. Gleichzeitig sind die Einkommen der ärmsten Haushalte stark gesunken und auch Haushalte, welche über eine Rente der ersten Säule (AHV, IV, Waisenrente) verfügen,
benötigen vermehrt Ergänzungsleistungen. 12% der Haushalte im Kanton Bern können ihre Existenz nicht mehr aus eigenen Mitteln bestreiten und sind auf öffentliche Unterstützung an-
gewiesen.
Die Sozialhilfequote ist tendenziell steigend und liegt im kantonalen Vergleich auf einem überdurchschnittlich hohen Niveau. Ein wichtiger Grund dafür ist, dass der Kanton Bern relativ
wenige der Sozialhilfe vorgelagerte, bedarfsabhängige Sozialleistungen kennt, wie z.B. Ergänzungsleistungen für Familien, Mietzinszuschüsse, Betreuungsgutscheine, Bildungs-
gutscheine usw. Andererseits erreichen die Sozialdienste dank ihrer Professionalität besser die Bedürftigen.
Alleinerziehende sind mit Abstand am häufigsten auf Sozialhilfe angewiesen. Dem gilt es mit gezieltem Ausbau der familienergänzenden Kinderbetreuung und einer besseren Verein-
barkeit von Beruf und Familie entgegen zu wirken. Aber auch Kinder- und Jugendliche, Einzelpersonen und so genannte Working-Poor sowie Personen ohne Berufsabschluss sind unter
den Sozialhilfebeziehenden stark vertreten.
Vehement wehrt sich die BKSE gegen Bestrebungen die Sozialhilfeleistungen im Kanton Bern zu kürzen. Rein statistisch gesehen könnte damit zwar die Sozialhilfequote reduziert werden, hingegen blieben die relative Armut und die soziale Ungleichheit bestehen. Die Unterstützungsrichtlinien der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe, welche auch im Kanton Bern angewendet werden, haben sich gesamtschweizerisch bewährt und garantieren auch Sozialhilfebeziehenden ein Minimum an Teilnahme am sozialen Leben.
(Auszüge aus der Medienmitteilung vom 11.12.2012)
AvenirSocial, Sektion Bern: „Unser soziales Netz hat neue und grosse Löcher“
Armut ist bedrohlich, sie ist gewachsen und kann (fast) jede/n treffen. Der Ausstieg ist alleine nur schwer zu schaffen. Der Regierungsrat macht im Sozialbericht 2012 die Lücken der Existenzsicherung sichtbar. Neue staatliche und privatwirtschaftliche Massnahmen sind notwendig und werden sich lohnen. Armut können wir nur gemeinsam überwinden.
Armut ist bedrohlich: für die betroffenen Menschen existenziell, für unsere Gesellschaft eine zu oft verdrängte Realität mit sozialem Zündstoff. Sehr beunruhigend ist, dass die ärmsten Menschen in den letzten 10 Jahren fast 25% weniger Haushaltseinkommen zur Verfügung hatten. Armut führt zu sozialer Ausgrenzung, oft zu Krankheit, zu Demütigungen und in prekäre Arbeitsverhältnisse. Der Ausstieg aus länger dauernder Armut ist alleine nur schwer zu schaffen.Armut kommt Betroffene und unsere ganze Gesellschaft teuer zu stehen.
Im Bericht zur Bekämpfung der Armut vermissen wir die soziale Verantwortung der Wirtschaft. Arbeitgebende entscheiden, ob existenzsichernde Löhne bezahlt werden oder nicht. Existenzsichernde Löhne könnten vielen Menschen ein Leben in Armut oder in Abhängigkeit ersparen. Existenzsichernde Löhne und Massnahmen zur Überwindung der Armut zahlen sich direkt volkswirtschaftlich aus.
Armut können wir nur gemeinsam überwinden. Wir empfehlen – gemeinsam mit KABBA, GMS Bern sowie dem SAH Bern - folgende sechs Auswege zur Überwindung der Armut im Kanton Bern:
1. Ergänzungsleistungen für Working-Poor-Familien
2. Mindestlöhne statt Sozialhilfe
3. Stipendien statt Sozialhilfe für Junge und Erwachsene
4. Bezahlbare, entwicklungsfördernde familienergänzende Kinderbetreuung
5. Günstigen Wohnraum fördern
6. Steuerfinanziertes Gesundheitswesen prüfen.
(Aus der Medienmitteilung vom 10.11.2012)